KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank... |
Montag, 21. Dezember 2009
Der letzte Strich- eine Weihnachtsgeschichte
klanghoff, 23:43h
Der Abendwind blies unter den vor ihm ausgebreiteten Papyrus, so dass Simeon ihn an den Enden immer wieder beschweren musste. Bis auf das flackernde Licht der Öllampe auf seinem Schreibtisch war alles dunkel. Eine innere Unruhe hielt ihn vom Schlafen ab.
Warten - ja, geduldiges Warten war eine Tugend, vielleicht die schmerzhafteste. Nicht, dass sie körperlich wehtun würde, aber im Warten begegnet der Mensch dem gesamten Ausmaß seiner Ohnmacht, dem Angewiesensein auf etwas, was sich seinem Einflussbereich entzog. Wie viele Jahre hatte er nun täglich im Tempel gesessen. Jeden Morgen erneut mit der Hoffnung, dass dies der Tag sei, an dem er ihm begegne. Am Abend hatte Simeon der heiligen Stätte wieder den Rücken gekehrt, häufig traurig und innerlich zerrissen. Er machte Jahwe keine Vorwürfe, wer war er, dass er das könnte? Dafür hatte er Ihn schon zu sehr erlebt. In seinem spärlich möblierten Raum setzte er sich oft an den Tisch und überdachte sein Leben. Auch an diesem Abend füllten Erinnerungen den Papyrus. Simeon richtete seinen Rücken auf und las erneut: Ein langes Leben habe ich gelebt. Gute und schwere Jahre. Knapp achtzig Sommer und Winter habe ich kommen und gehen sehen. Sie sind in meine Seele eingegangen, haben ihre Abdrücke hinterlassen. Die Spuren meines Lebens sind überall verteilt. Könnten sie des Nachts leuchten, so würden sie ein Gemälde ergeben. Gerne würde ich es vom Mond aus betrachten. Was würde ich sehen? Vielleicht mich selbst, so wie ich jetzt bin. Ganz gewiss aber mit der Signatur meines Schöpfers. Ich denke an meine Frau, Jael. Sie hatte ein heiteres Gemüt und besaß ein reines Herz. Viele Jahre haben wir miteinander verbracht. Wir haben viel gelacht und unsere Tränen gegenseitig aufgefangen. Drei Söhne und vier Töchter sahen wir gemeinsam aufwachsen. Sie haben unser Leben beschenkt. Doch als unsere Tochter Salome der Krankheit erlag, zerbrach Jaels Herz vor Kummer. Meines erstarrte, wie ein großer Stein, der sich auf meine Brust legte. Jahwes Güte hat uns wieder hergestellt. Er hat die klaffende Wunde geschlossen, die ihr Tod in uns verursachte. Wo ist der Trost stärker als bei dem Gott Israels? Seither habe ich keine Angst vor dem Tod, wohl aber vor der Enttäuschung, der letzte große Strich könnte ausbleiben, der meine Lebenszeichnung fertig stellt. Jael starb in Frieden und hinterließ mir Einsamkeit. Meine Kinder haben Jerusalem verlassen. Zu viele suchen hier nach Arbeit. Das römische Militär unterdrückt uns. Hunger sitzt in den Gassen und breitet sich in den Häusern aus. Menschen sehnen sich nach Erlösung, hoffen durch eigene Anstrengung dem Joch des Gesetzes zu genügen. Wo ist der, der ihre niedergedrückten Seelen aufrichtet, der ihnen Jahwes Gnade zeigt? Denn ihre Ohren sind verstopft von der Mühsal des Alltags. Ich bin geblieben, in meinem Jerusalem. Da hier meine Verheißung liegt. Hier soll ich das Heil, den Messias, schauen. So ließ ich meine Kinder und Kindeskinder ziehen. Mein Herz schlägt höher, wenn sie mich besuchen, doch es zerreißt sich vor Sehnsucht nach der Ankunft des Kindes, das die Rettung Israels bedeutet. Simeon erhob sich aus seinem Stuhl und setzte sich auf seinen Schlafplatz. Neben ihm eine Ziege, die schon oft versucht hatte, seine Worte zu fressen. Wenn er schrieb, band er sie fest. Nun meckerte sie. Was machte ihr Gestank gegen den Becher frischer Ziegenmilch, mit dem sie ihn jeden Morgen beschenkte? Jetzt war er wieder da, der Stich, unangekündigt durchzog er seine linke Brusthälfte. Der alte Mann presste seine Hand auf die Stelle über seinem Herzen und hechelte, bis der Schmerz schwächer wurde. Er wusste, dass sich seine letzten Stunden nahten. Simeon hatte die Schrift studiert, wieder und wieder, hatte den Lesungen im Tempel gelauscht, bis er sie auswendig rezitierte. Jahrhunderte hatte Gott nicht mehr durch Propheten zu seinem Volk gesprochen. Doch die, die an ihn glaubten, hörten seinen Geist auch jetzt, leise, sanft, wie ein zaghafter Freund, der an die Tür klopft. Jahwe zeigte sich Simeon durch Träume. In ihnen begegnete er einem Licht, so stark, dass es die Dunkelheit durchfuhr und vertrieb, einer Kraft, die längst geduldete Fesseln zersprengte. Nicht in Gestalt der Streitmacht, die die Gassen verunsicherte, sondern in Gestalt eines Knechtes, nicht schön vom Aussehen, so wie die Welt Schönheit erachtete, aber rein und vollkommen wie Jahwe selbst. Erschöpft kippte Simeons Oberkörper auf die Matte. Das restliche Lampenöl verbrauchte sich in einer schwachen Flamme. Wenige Stunden später schritt der Morgen durch die spröden Ritzen seiner Eingangstür. Mit schmerzenden Gliedern stemmte sich Simeon von seinem Nachtlager hoch. Er wusch sich, trank die Ziegenmilch und hüllte sich in einen Mantel. Sein Stock stütze ihn auf seinem Weg zum Tempel. Lautes Treiben begrüßte ihn auf den Gassen Jerusalems. Händler zogen ihre Karren zum Marktplatz, um die magere Ernte, die ihnen die Römer übrig ließen, teuer zu verkaufen. Aus Langeweile rempelten Soldaten hier und da Bewohner an und hofften auf irgendwelche Reaktionen. In den staubigen Straßen spielten Kinder mit Steinen. Sie versuchten das kleine Steinchen in der Mitte zu treffen und zu gewinnen. Frauen gluckten mit ihren Wasserkrügen auf den Köpfen beisammen. Sie plauderten, die eine laut, die andere schrill, während die Tagelöhner unter einer Palme im Stadtkern auf einen Job hofften, von dem sie notdürftig ihre Familie ernähren könnten. Drei Pharisäer schritten hoch erhobenen Hauptes an Simeon vorbei. Menschen des Gesetzes, die ausstrahlten, sie könnten ihren Gott mit der Einhaltung der Mischnah beeindrucken, wie Glühwürmchen, die der Sonne ihre Lichtkraft vorführten. Simeon erreichte den Tempel und sank kraftlos in der hintersten Reihe am Boden nieder. Worte aus Jesaja drangen an sein Ohr: Aber wer glaubt dem, was uns verkündigt wurde, und wem ist der Arm des Herrn offenbart? (Jesaja 53) Simeon nickte: Ja, ich glaube Dir, Jahwe, selbst wenn ich dem Retter erst auf meinem Sterbebett begegne. Moses Geschichte kam ihn in den Sinn. Wie sehr musste er gebrannt haben, sein Volk aus der Knechtschaft der Ägypter zu befreien. Wie sehr hatte es Moses bereut, Gottes Arm mit seinem Arm, durch einen Totschlag an einem Ägypter, zuvor gekommen zu sein, um dann weitere vierzig Jahre auf Jahwes Reden zu warten. Ja, der Gott Israels hatte gezeigt, dass seine Zeitrechnung nicht unsere ist. Am Ende wurden alle seine Verheißungen wahr. Jahwe hatte sein Volk auf gnädige und unnacharmige Weise gerettet. Die Lesung war zu Ende. Die Männer verließen flüsternd die Tempelhalle und Stille breitete sich im Inneren der Synagoge aus. Simeon musterte seine Hände. Tiefe Furchen erzählten von einem mühevollen Leben. Sie waren leer. Er hatte nichts zu geben. Dann hielt Simeon die Handflächen nach oben und war bereit, bereit zu empfangen. Ein Sonnenstrahl wärmte seinen Rücken, als sich das Tor hinter ihm einen Spalt öffnete. Ein junges Paar schaute sich zaghaft um. In dem Arm der Frau ein Leinenbündel. Simeon stand auf. Das Paar erblickte den alten Mann und kam auf ihn zu, als seien sie verabredet. Dann hielt die Frau Simeon das Bündel entgegen, und er nahm den Jungen zu seiner Brust. Der Säugling schaute ihn an. Tränen rannen über Simeons faltige Wangen und seine Hände zitterten. Er war angekommen, der von dem die Schriften erzählten, der wonach die Schöpfung ächzte und stöhnte, der von dem das Heil sich über den gesamten Erdball ergießen sollte. Er, der Höhepunkt in Simeons Leben, der letzte Strich seines Gemäldes. Das Warten hatte ein Ende. Als er die kleine Familie segnete, spürte er, wie Segen auf mannigfaltige Weise auf ihn zurückkam. Dann legte er seine Hände auf die Eltern, und erahnte die Last, die Maria noch zu tragen hatte, den Schmerz, der ihr wegen ihres Sohnes widerfahren würde. Doch der Friede Gottes wies Simeon auf die Hoffnung hin, die aus dem Leid kommen würde. Ein letztes Mal sah er der Familie fest in die Augen und verließ den Tempel. Seine Beine waren bleiern, aber sein Herz sprang wie das eines jungen Rehs. Er hatte den Erlöser gesehen. Am nächsten Morgen klopfte sein Enkel Nathanael an Simeons Hütte. Als eine Antwort ausblieb, trat er in den Raum. Die Ziege trampelte unruhig auf ihrem Fleck. Sein Großvater lag mit dem Oberkörper auf der Papyrusrolle. Sein Atem war erloschen, wie das Licht der Ölleuchte. Nathanael hob Simeon über seine kräftige Schulter und legte ihn sanft in die Schlafnische. Lange sah er seinen Großvater an, dessen Gesicht einen außergewöhnlichen Frieden trug. Nathanael durchzuckte ein angenehmer Schauer. Dann trat er an Simeons Schreibtisch, rollte das Papyrus auseinander und las die letzten Zeilen: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel. (Lukas 2,29-32) Tränen rannen über Nathanaels Gesicht. Tränen des Verlustes, Tränen der Freude und Tränen überwältigender Dankbarkeit. |
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Letzte Aktualisierung: 2020.07.09, 23:13 status
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