KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank...
Sonntag, 3. September 2006
Romananfang: Die sieben Türen
Mias zwölfter Geburtstag endete da, wo sie es nie vermutet hätte. Am Morgen war sie von Zuhause weggelaufen, zu einem nahegelegenen Bauplatz. Doch, wo war sie jetzt?
Der Tag hatte begonnen, wo er eigentlich immer beginnt: in ihrem Bett in der Wolffsonstraße in Neustadt. Ein Sonnenstrahl hatte sich durch die Vorhänge geschlängelt und sie geweckt. Das war ihr Morgen, den sie sich so herbeigesehnt hatte! Ein Blick auf ihren Wecker verriet, dass es erst kurz nach halb sieben war. Damit die alten Treppenstufen unter ihren nackten Füßen nicht knarrten, und sie damit verrieten, stützte sie sich am Holzgeländer ab. Die untersten Stufen übersprang sie mit einem Satz. Zu ihrer Enttäuschung drang Licht aus der Küche. Auf dem Küchentisch stand eine große Platte mit Kirschkuchen, den sie besonders wegen der dicken Streusel liebte. Bei diesem fehlten sie allerdings, besonders die dicken! Jemand hatte den Kuchen angeknabbert. Hinter ihr hörte sie ein lautes Schnaufen. Als sie sich umdrehte, stand er mit seinem breitem Grinsen vor ihr. Leo. Er war einen Kopf kleiner, aber um einiges kräftiger. In seinen Mundwinkeln klebten noch die letzten Spuren seines Raubzuges. „Glückwunsch Schwester!“
Ohne ein Anzeichen von Reue, drückte er Mia einen Schmatz auf die Wange. Für sie fühlte es sich an, wie eine dreckige, kalte Hundeschnauze.
„Was fällt Dir ein, meinem Geburtstagskuchen anzuknabbern, Du Blödmann!“
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, reckte ihren Hals nach vorne und biss ihre Zähne zusammen.
„Den Kuchen schaffst Du doch sowieso nicht alleine!“ knirschte Leo, während sein Igelkopf zwischen die Schultern sackte.
Mias Gesicht lief radieschenrot an. Gerade wollte sie für einen Hieb auf seinen Oberarm ausholen, da stellte sich ihre Mutter dazwischen.
„Jetzt verratet ihr mir bitte mal, was das Geschreie am frühen Morgen soll!“
„Der hat meinen Kuchen zerstört!“
„Petze“, Leo rümpfte die Nase.
„Erst einmal herzlichen Glückwunsch, Mia“, ihre Mama band gelassen den weißen Morgenmantel zu und nahm Mia in den Arm.
Wie jeden Morgen roch sie nach frischen Rosen. Doch am liebsten hätte Mia sie heute in ihrer Wut von sich gestoßen.
„Leo, das war echt gemein. Ich möchte nicht, dass Du Streusel vom Kuchen isst. Und jetzt entschuldige Dich bitte bei Mia.“
Mia fehlte wie immer eine gehörige Portion Energie in Mamas Stimme.
„T’schuldigung“, kam es ebenso kraftlos aus Leo hervor.
In Mamas Nähe fühlte er sich vor dem brodelnden Vulkan sicher. Das war wieder einmal ein Trumpf für Leo.
„Das meinst Du doch gar nicht ernst!“
In Mias Inneren kam es jedoch zum Ausbruch. Sie drehte sich auf der Ferse um und rannte die Treppe hoch.
„Beiß dich doch nicht immer so an den Dingen fest. Dein Bruder hat sich doch entschuldigt.“ seufzte ihre Mama hinterher.
Das war zuviel. Es war einfach so ungerecht: Warum durfte er sie verletzten, und sie musste es ertragen? Aus ihren Augen tropften Wut und Verzweiflung. Sie wischte sie mit ihrem Ärmel weg und strich sich ihre Strähne aus dem Gesicht. Kurze Zeit später stand ihr Plan fest. Endlich würde sie es machen. Wie oft war sie ihren Plan schon im Kopf durchgegangen, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen! Mia stellte den Schulranzen auf den Kopf, so dass ihre Rechenhefte und Bücher herausfielen und packte ihn mit ihrem Lieblingsbuch „Tintenherz“, ihrer Taschenlampe , 29,48 €, ihrem gesparten Taschengeld, ihren warmen Kapuzenpulli für kühle Augusttage, Bonbons, einer Sonnenbrille, einem Ostfriesennerz, einer Schaufel und ihrem Kompass von Opa. Damit verließ sie das Haus, nachdem sie am Frühstückstisch ihrer Familie vorgeflunkert hatte, dass alles wieder in Ordnung sei. Papa bekam von alledem nichts mit. Wie immer hing er mit seiner Nase tief im aktuellen Zeitgeschehen und blätterte nur hin und wieder in der Zeitung weiter. Ihre Mutter schien zu merken, dass etwas nicht stimmte. Unentwegt fragte sie nach und beteuerte, wie sehr sie sich auf das Auspacken der Geburtstagsgeschenke nach der Schule freute. Für kurze Zeit wollte sie den Plan schon hinschmeißen, bis Leo ihr hinter vorgehaltener Hand die Zunge herausstreckte. Damit stand ihr Entschluss fest: Mit diesem Bruder konnte man nicht unter einem Dach leben! Ihre Wut und Abenteuerlust überschatteten jeglichen Zweifel.
Nachdem sie außer Sichtweite war, schlug sie mit dem Fahrrad einen Pfad entgegengesetzt zum Schulweg ein. Sie fuhr durch die Kleinstadt in Richtung der Weinebene. In den Gärten der Nachbarschaft schien man jede Laus vom Blatt gewischt zu haben. Kai, Hannahs vier Jahre älterer Bruder, nannte das spießig. In Kai hatte sich Mia ein bisschen verliebt. Sie fand ihn cool, obwohl Hannah sich oft über ihn beschwerte, weil er so faul war und die Hausarbeit immer an ihr kleben blieb. Kai würde sie bestimmt sehr mutig finden, so mir nichts dir nichts von Zuhause auszureißen. Sie fuhr mit dem Fahrrad weiter in die Weinebene.
Die Sonne verwandelte den Morgennebel in einen milchig goldenen Schleier, der sich über die satt behangenen Reben ausbreitete. Schwärme von Fruchtfliegen spielten um die Trauben, so sorglos, als hätte für sie die Ewigkeit begonnen.
Je weiter sie sich von der Stadt entfernte, desto mehr vernahm sie einzelnes Vogelgezwitscher. Die Vögel trotzen den im Wind scheppernden Dosen an den Rebstöcken und mopsten sich hier und da die ein oder andere reife Beere. Unter anderen Umständen hätte Mia die Stimmung geliebt, jetzt kreisten andere Dinge in ihrem Kopf. Sie brütete über den schrecklichen Morgen:
Liebten ihre Eltern ihren Bruder denn mehr als sie? Warum musste sie immer vernünftig sein, während Leo so viel Blödes machen durfte, und das an ihrem Geburtstag? Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. Was hatte sie eigentlich vor, wo sollte sie eigentlich hin? In der Schule würden sie sie auch vermissen. Besonders Hannah würde sich ganz schön wundern. Und was, wenn die Polizei sie fand? Würden ihre Eltern dann wütend auf sie sein oder nur glücklich, dass sie wieder da war?
Zwischen den Weinfeldern schlängelte sich ein sandiger Weg, der zur nächsten Stadt führte. Auf der rechten Seite entdeckte sie in einigen Metern Entfernung ein umzäuntes Gebiet. Große Bagger und Betonmischer postierten auf rostrotem Sand. In der Ferne hörte sie Traktoren durch die Felder rattern. Ansonsten schien keine Menschenseele in der Nähe. Sie war noch nie hier gewesen. Was sollte hier entstehen? Mia wurde neugierig. Von klein auf hatte sie sich für große Maschinen und Häuserbau interessiert. Als Hannas Familie damals ihr Haus bauen ließ, waren sie jeden Tag auf der Baustelle und beobachteten, wie Stück für Stück das Gebäude entstand. Mia wollte sich das Gelände genauer angucken. Wie sich Leute überwinden konnten, auf so hohe Kräne zu kraxeln? Auch sie war sehr mutig, aber vor so einer Höhe hatte sie ganz schön Respekt. Zudem war sie ziemlich neugierig, zum Leid ihrer Eltern, wie es manchmal schien. Früher beantwortete Papa ihre Fragen immer geduldig, doch jetzt wollte er nach kurzer Zeit lieber zurück an seinen Computer. Mama versucht ihre Fragen möglichst schnell abzutun, obwohl sie Mia immer lobte, weil sie sich so für alles interessierte. Mama war Grundschullehrerin. Um sie tanzten jeden Tag mehr oder weniger neugierige Kinder, und vielleicht waren Mias Fragen nach der Schule ihr einfach zu viel. Papa war Artist und Jongleur. Er konnte mit vielen verschiedenen Sachen jonglieren, sogar hinter dem Rücken und wunderbare kleine und große Ballontierchen machen: Hasen, Krokodile, Schildkröten. Er trat vor Kindern und Erwachsenen auf und verdiente damit sein Geld. Er hatte Mia das Einradfahren und Jonglieren beigebracht und damit kassierte Mia auf der Straße immer eine Menge erstaunter Blicke.
Aber so etwas wie Papa wollte sie später nicht werden. Sie wollte Trampolinspringerin werden. Jeden Mittwoch holte sie Hannah dafür ab. Ihre Vorfreude wuchs die Tage davor schon ins Unermessliche. Durch die Luft zu schweben und Saltos zu machen, das war ihr Traum. Morgen war es wieder so weit, aber für sie würde es wohl ausfallen.
Ihr Blick glitt über das Baugelände. Mit einem Mal entdeckte Mia am Rand eine kleine Brücke aus Sandsteinen. Verloren ragte sie einen halben Meter aus dem Boden. Mia bog eine kleine Öffnung im Maschendraht nach oben und schlüpfte hindurch. Sie ging näher heran. "Es muss die Rundung eines Torbogens sein", dachte sie, als sie näher kam. Vor den Sandsteinen war ein Erdloch, gerade groß genug, um hineinzuschlüpfen. Würde sie wieder hoch kommen, wenn sie da hineinkroch? Sie holte ihre Taschenlampe aus dem Ranzen und leuchtete in das Loch hinein. Mehr als den Erdboden in etwa 1,50 m unter ihr konnte sie nicht entdecken. Aber sie konnte sicher gehen, dass sie nicht auf Mäuse, Ratten oder auffällig großen Spinnen landete, wenn sie da hineinschlüpfte. Soweit sie sehen konnte behielt sie mit ihrer Vermutung recht. Die Steine gehörten zu der Rundung eines Bogens. Aber was war das für ein Bogen, und wozu gehörte er? Das würde sie nur sehen, wenn sie in das Loch stieg. Ich kann da unmöglich hineinkrabbeln. Wer weiß, ob ich da wieder herauskomme! Doch je mehr sie sich zu überzeugen versuchte, dass sie besser nicht in den Spalt steigen sollte, desto mehr schienen Funken der Neugierde sie fast zum Platzen zu bringen. Mia kramte ihre Schaufel hervor. Zur Not werde ich mich freischaufeln. Ich muss wissen, ob da unten noch mehr ist. Sie ließ ihren Unterkörper langsam in den Erdspalt gleiten, während sie sich mit ihren Unterarmen am Rand abstützte. Die Erde bröckelte und gab nach, so dass Mia das Loch vergrößerte und mit ein paar Erdklumpen auf den Boden fiel. Mit der einen Hand hielt sie die Schaufel, mit der anderen eine Taschenlampe, die zunächst den Boden und heraushängende Wurzeln beleuchtete. Als sie sich aufrichtete konnte sie gerade über den Erboden schauen. Sie bückte sich wieder und richtete ihre Taschenlampe auf den Bogen. Seltsam, das Licht ihrer Taschenlampe prallte an einer Nebelwand auf der anderen Seite des Bogens derart ab, dass sie nichts weiter erkennen konnte. Wie war das möglich? Nebel unter der Erde? Was war dahinter, etwa ein Abgrund, oder ein Teich? Sie fröstelte. Doch ihre Neugierde triumphierte über ihrer Angst. Langsam schob sie ihren rechten Fuß nach vorne und taste sich so durch den Bogen. Ihr Fuß blieb auf festen, trockenem Grund, so dass sie sich mit dem ganzen Körper durch die Nebelwand schieben konnte.
Dann verschlug es ihr den Atem.
Vor ihr erhob sich ein stattliches Haus. Stufen bahnten sich zu dem großen Eingangstor, das mit massiven Säulen umrahmt war, die an einen griechischen Tempel erinnerten. Es war dämmrig. Doch über ihr war der endlose Himmel und nicht, wie erwartet, ein Erddach. Zwei große Feuerschalen warfen ihr warmes Licht auf die Hausfassade, so dass Mia im schummrigen Licht kleine Drachen entdeckte, die sich wie Fledermäuse unter dem Dachbalken krallten. Ihr großer Schatten ließ sie mächtig und unheimlich erscheinen. Wie der Rest des Gebäudes waren auch sie aus kaltem, weißen Stein, doch ihre Augen hingen an der ankommenden Besucherin, als wollten sie sagen: Was willst du hier? Das ist kein Ort für kleine Mädchen. Geh weg! Verschwinde! Dazu ließ das flackernde Licht ihre Schatten zittern und lebendig werden.
Mias Knie wurden weich. Sie hielt sich an einem Ast fest, den ihr ein knorriger Baum entgegenstreckte.


Hier geht es bald weiter.....

Alle Rechte an diesem Text sind Kerstin Langhoff vorbehalten


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