KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank...
Sonntag, 3. September 2006
Oma wohnt jetzt im Himmel
Eine Geschichte über den Tod
(gerade für Kinder ab 4 Jahren und älter geeignet)


Das Telefon klingelte seltsam. Es konnte weder eine Freundin noch Papa aus dem Büro sein. Dann klang es nämlich fröhlich oder lustig. Aber an jenem Vormittag im Oktober war es schrill, durchdringend, wie ein Wecker am Morgen vor einer Mathearbeit. Mama spürte es auch, streifte ihre Schaumhände vom Spülen an der Schürze ab und hob zögernd den Hörer von der Gabel.
„Ja, Martinson, hallo...?“
Sie folgte regungslos den Worten, die durch die Leitung flitzten. Ich stellte mich neben sie und lauschte. Eine aufgeregte Stimme quietschte durch den Hörer wie ein Luftballon, den man am Endstück auseinander zog, während ihm die Luft ausging.
Mama legte auf. Sie stand da wie eine traurige Statur, sackte auf das Sofa und hauchte:
„Lisa, Oma ist tot.“
Der Satz traf mich wie ein Schlag. Ich fühlte mich benommen. Wie konnte das sein? Auf einmal nicht mehr da?
Ich spürte Mamas tränenfeuchte Wange, als sie mich umarmte.
Ich wollte das nicht, wollte nur für mich sein und schloss mich im Bad ein. Aber ich konnte nicht weinen. Ich starrte an die gelb geflieste Wand und dachte an- gar nichts. Dann wartete ich, aber keiner kam. Auch nicht Mama.
Von da ab war sie nämlich kaum noch zu sprechen. Ständig hatte sie etwas zu erledigen, oder hing am Telefon und schluchzte.
Am Tag vor Omas Beerdigung fuhr ich zu ihrem Zuhause. Mama wollte, dass ich dort die Blumen goss. Oma hatte eine kleine Wohnung, die aus lediglich zwei Zimmern bestand, dem Bad und dem Wohnraum mit Küchenzeile und Schlafnische. Dafür hatte sie aber einen großen Balkon zum Wald hin. Oftmals lehnte sie sich über die Geranienkübel, die am Geländer befestigt waren, und versank mit Blick auf den Wald in ihrer Welt der Erinnerungen. Sie erzählte viel von Opa, der vor Jahren an Krebs gestorben war. Nicht selten liefen ihr dabei Tränen über die faltigen Wangen. Dann zog sie ihr schneeweißes Stofftaschentuch mit dem Häkelrand aus der Schürze und tupfte damit ihre Tränen weg.
Oma und Opa hatten sich wohl sehr geliebt.

Im Frühjahr hatte ich mit ihr ein Elsterpärchen beobachtet, das im Wipfel eines Buchenbaumes ein Nest für seine Jungen baute. Nun waren die Kleinen flügge geworden und der Herbst hatte die Blätter bunt gemalt.

Als ich an jenem Nachmittag den Schlüssel in die Wohnungstür steckte, war mir mulmig zumute. Oma wohnte in einem Wohnstift auf einem Gang mit zehn Türen. Ein vertrauter Geruch, der an Gemüsesuppe erinnerte, schlängelte sich durch den Flur. Dann trat ich in die Kleine Wohnung. Wenn Oma noch leben würde, wäre sie spätestens jetzt aus ihrem Ohrensessel aufgestanden, um mich zu begrüßen. Doch der Sessel blieb regungslos. Alles war an seinem Platz: die Porzellangans mit den Kochlöffeln, der runde Eau de Toilette- Flakon auf dem Glasregal im Bad, das Vogelhäuschen auf dem Balkon und vieles mehr, ohne das Oma gar nicht zu denken war. Aber alles war genauso wenig ohne Oma auszuhalten.
Zum ersten Mal rollten mir Tränen über die Wangen, zum ersten Mal löste sich der Knoten, der meine Kehle seit Tagen zudrückte. Ich sank in den Ohrensessel und weinte.
Als ich Oma vor Jahren einmal fragte:
„Warum heißt der Ohrensessel eigentlich Ohrensessel?“, antwortete sie verschmitzt, während ihre Augen über die Lesebrille blitzen:
„Erst einmal, weil seine Seitenlehnen wie Ohren aussehen und zweitens, weil der Ohrensessel alles hört, was man sagt, und daher viele Geheimnisse in sich trägt."
In dem Moment, als ich mich an das Gespräch erinnerte, schien der Sessel nach hinten zu kippen und transportierte mich geradewegs zurück in eine andere Unterhaltung, die ich vor kurzem mit Oma geführt haben musste. ...

Alle Rechte an diesem Text sind Kerstin Langhoff vorbehalten

Die vollständige Geschichte ist, neben 24 weiteren lesenswerten Geschichten, seit April 2007 in dem Buch
"Gott trocknet alle Tränen" (Trost für Hinterbliebene), Hrsg. Eckart Haase, zu finden.


ISBN 9783930730537


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