KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank...
Donnerstag, 14. September 2006
Der Schatz der Sonne
Es war ein wundersamer Wintermorgen, den die Sonne ganz in ihren Besitz zu nehmen schien. Das Licht flutete in die entlegensten Ecken des Palastes, selbst dahin, wo sich die Fledermäuse bisher sicher gefühlt hatten. An diesem Morgen gebar die Königin ihr einziges Kind, Aurora.
Als die Sonne die kleine Prinzessin mit ihren Strahlen berührte, legte sie etwas in sie hinein: das Geheimnis der Freude.
„Sonderbar!“, wunderte sich die Hebamme, die bisher nur schreiende Säuglinge erlebt hatte. Denn Aurora lächelte.

Als sie älter wurde, freute sie sich scheinbar über jede Kleinigkeit: die Schneeglöckchen, die im Frühjahr ihre Köpfe aus dem Eis reckten, die Marienkäfer, die um ihre Nasenspitze tanzten und ihren Diener James, der so schlecht hörte, dass er es nicht einmal merkte, wenn Aurora ihm die Schnürsenkel zusammenknotete und hinter seinem Rücken kicherte.
So steckte die kleine Prinzessin mit ihrer Freude den gesamten Palast an.

An ihrem neunten Geburtstag wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Schlittschuhlaufen zu lernen. Im Arm ihres Dieners eingehakt, stakste sie in ihren neuen Schlittschuhen über den zugefrorenen See. Doch schon nach wenigen Metern verlor Aurora das Gleichgewicht und riss den armen, alten James mit sich auf die Eisfläche. Sie musste so laut lachen, dass sich alle nach ihr umdrehten und mitkicherten. Nur James rieb sich mürrisch den Rücken.
„Darf ich Euch aufhelfen?“, fragte ein Junge aus dem Dorf und streckte ihr freundlich die Hand entgegen.
„Ja, bitte“, antwortete die Prinzessin, „aber nenn mich doch einfach Aurora.“
„Ich heiße Ferdinand", lächelte der Junge, "und bin ein guter Eisläufer. Soll ich Euch das Schlittschuhlaufen beibringen?"
Aurora strahlte über beide Wangen. Von da an waren sie jeden Nachmittag auf dem Eis anzutreffen.
Am Anfang war das Königspaar skeptisch gegenüber der Freundschaft ihrer Tochter zu einem Dorfjungen, doch als sie Ferdinand mit seiner freundlichen und höflichen Art begegneten, schlossen sie ihn schnell ins Herz.
Der Winter ging vorüber. Die Eisfläche auf dem See wurde brüchig und verschwand. Aber Aurora und Ferdinand sahen sich weiterhin fast jeden Tag.

Als die Tage wärmer wurden und der Sommer kam, spielten beide Kinder im Schlossgarten. Gekitzelt von den Strahlen der Sonne, hörte man ihr Lachen bis hinunter ins Dorf, wo es den Leuten ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte.

Wie schnell verging die Zeit mit einem Freund zum Spielen!
Bald malte der Herbst die Blätter bunt und von weitem hörte man das dumpfe Hufgeklapper der Pferde, die voll beladene Erntekutschen ins Dorf zogen. Aurora und Ferdinand saßen unter der Krone eines mächtigen Ahornbaumes, dessen Früchte sich wie kleine Propeller im Wind drehten. Aurora spaltete eine von ihnen und klebte sie auf ihre Nase. Ferdinand grinste. Dann flüsterte die Prinzessin: „Wir wollen immer Freunde sein, und die Ahornfrucht soll uns daran erinnern.“
Ferdinand wurde es warm ums Herz, und er nickte. „Aurora, möchtest du meine Eltern und mich besuchen? Sie würden dich gerne kennen lernen.“
„Ja!“, antwortete sie begeistert.

Schon ein paar Tage später fuhr sie in der königlichen Kutsche zum Dorf. James saß neben dem Kutscher und schlief. Sie kamen durch ein Waldstück. Am Wegesrand bot eine Frau Schmuck, Teppiche, Geschirr und allerlei Spielzeug feil. Die Händlerin war in einen prächtigen, blauen Samtmantel gehüllt, dessen Kapuzenrand bis zu ihrer Stirn ragte. Plötzlich erblickte Aurora inmitten der Waren ein geschnitztes, rosa Holzpferdchen.
„Halt, so haltet doch an!“, schrie die Prinzessin aus Leibeskräften. Der Kutscher erschrak und brachte die Pferde sofort zum Stehen, so dass der alte James unsanft aus dem Schlaf gerüttelt wurde.
„Was ist denn los?“, keuchte der Kutscher, als er die Tür öffnete. Aurora sprang an ihm vorbei und auf das rosa Pferdchen zu. Mühsam stieg der alte Diener vom Kutschbock und trottete kopfschüttelnd hinter ihr her.
Die Prinzessin betrachtete das Pferd lange: Die Mähne war silbern bemalt und glitzerte, als sei sie aus tausend klitzekleinen Sternen zusammengesetzt.
„Möchtet Ihr das Pferdchen haben?“, fragte eine dumpfe Stimme.
Aurora schaute auf. Die Händlerin durchdrang sie mit ihrem scharfen Blick.
„Ja, d-die-se-es Pferd, wa-as soll denn das ko-o-sten?“, stotterte Aurora.
„Dieses Pferd ist unverkäuflich!“
„Unverkäuflich?“
Die Prinzessin zuckte zusammen.
„Nun“, fuhr die Verkäuferin unbeirrt fort, „es ist nicht mit Gold oder Silber zu erwerben, aber mit einem warmen Sonnenstrahl, der das kalte Gestein des Mondes erwärmt. Tauscht Eure Freude gegen das Pferdchen, und solange Ihr es besitzt, wird Eure Freude mein sein.“
Auf den ersten Blick schien das Gesicht der Händlerin wunderschön, doch dann fiel Aurora auf, dass die Frau keine Miene verzog. So war es kühl und fahl wie der Mond.
Aurora schaute wieder zu dem Pferdchen. Würde sie wirklich ihre Freude dafür hergeben müssen? Doch sie wollte das Pferdchen besitzen, koste es was es wolle. Kurzerhand schob sie ihre Bedenken beiseite und sagte zaghaft: „Abgemacht!“
Aus der Verkäuferin brach ein lautes Lachen hervor, das selbst James aufschreckte.
„Lasst uns gehen, Eure Hoheit“, drängte er und zerrte sie mit dem Pferd in ihrer Hand zur Kutsche.

Dort, wo das Dorf begann, stand ein Junge im Sonntagsanzug und trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte sich mit seinen Eltern mühevoll auf den Besuch der Prinzessin vorbereitet. Den gesamten Lohn, den der Vater in einem Monat als Tischler verdiente, hatten sie für diesen Tag entbehrt. Endlich konnte Ferdinand die Königspferde sehen und rannte auf die Kutsche zu.
„Hoooo“, rief der Kutscher und hielt an.
Er öffnete Ferdinand die Tür, damit er das letzte Stück noch mitfahren konnte. „Grüß Gott, Aurora!“, sagte Ferdinand freundlich. Aber das Mädchen schien ihn gar nicht zu beachten, sondern hielt ihm das Holzpferd entgegen.
„Guck mal, was ich auf der Fahrt zu dir bekommen habe.“
Er wunderte sich. Freute sie sich denn gar nicht, ihn zu sehen? Er suchte in ihren Augen nach einer Antwort, aber die waren nur auf das Pferd gerichtet.
Während des Nachmittags zweifelte Ferdinand immer mehr:
Gefiel Aurora sein Zuhause nicht?
Warum sagte sie nichts zu dem liebevoll bereiteten Essen?
Warum lachte sie überhaupt nicht, und warum interessierte sie sich nur für das Holzpferd und gar nicht für ihn und seine Eltern?

Als der Diener mit der Prinzessin am Abend aufbrach, blickte Ferdinand sie traurig an. Er wollte ihr seine Ahornfrucht zeigen und sagte:
„Hast du auch noch deine?“
Doch die Prinzessin winkte ab und drehte sich weg.
„So was gibt es doch überall!", entgegnete sie kalt.
Es hatte sich eine unsichtbare Mauer zwischen die Kinder geschoben. Ferdinand spürte sie, aber die Prinzessin schien sie nicht wahrzunehmen.............................

Alle Rechte sind der Autorin Kerstin Langhoff und dem Märchenbasar vorbehalten.

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