KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank...
Montag, 18. September 2006
Michel und Piet


Piet hielt seinen gelben Schnabel aus dem Nest, während seine Familie noch seelenruhig schlief. Die Sonne ließ ihre ersten Strahlen über die Elbe bis zu ihrem Möwennest am Strandhang gleiten. Piet dachte an die Geschichte, die Papa am Vorabend erzählt hatte: Sein Ur- Ur- Großvater Anton hatte tatsächlich in 82 m Höhe auf einer Plattform genistet. Diese Plattform gehörte zu jemandem mit Namen Michel. Aber dann habe der Michel 1906 gebrannt, und Piets Ur- Ur- Opa musste fliehen. Die beiden hätten sich dann nie wieder gesehen. Nun hatte Papa gehört, dass der Michel noch da wäre und viel schöner, als je zuvor. Die Menschen würden ihn lieben und sogar in Bussen zu ihm anreisen.
Piet hatte gespannt Papas Worten gelauscht. Er musste ihn treffen, diesen Michel. Vom Hafen aus wäre er leicht zu finden, hatte Papa gesagt. Das konnte ja nicht so schwer sein. Die kleine Möwe hüpfte aus dem Nest, nahm Anlauf und schwang sich ins Abenteuer. Der Wind blies Piet in die Federn und gab ihm Auftrieb.
So erreichte er schnell eine belebte Straße am Hafen. Viele Männer schrien und warfen mit Fisch, Obst und vielen Leckereien um sich. Die Leute lachten. Piet lief das Wasser im Schnabel zusammen. Am liebsten würde er einen Fisch auffangen, um mit den anderen Möwen zu „brunchen“. Aber er wollte ja unbedingt den Michel finden. Viele Männer trugen blaue Matrosenkappen. An einem Stand mopste er sich auch eine, die genau auf seinen Kopf zugeschnitten war. Wahrscheinlich passte sie, weil er einen „kleinen Dickkopf“ hatte. Jedenfalls meinten das seine Eltern. Mit Matrosenkappe getarnt, inkognito so zu sagen, mischte er sich unter das Volk, um so mehr vom Michel zu erfahren.
Folgende Merkmale trafen auf den Michel zu: er sei sehr groß, freundlich, schön, spiele wunderbare Musik und habe eine Plattform. Piet sah sich also nach schönen, großen Männern mit Platte um. Da die Männer Kappen trugen, war es schwer zu erkennen, wer wenig Haare hatte und wer nicht. Dann hörte Piet jemanden sagen: „Moin Michel, wie geit di dat?“ Ein anderer drehte sich um und grüßte mit seiner Matrosenkappe zurück. Er wischte sich mit einem Taschentuch über den wenig behaarten Kopf. Das musste er sein. Vorsichtig versuchte Piet auf Michels Platte zu landen. Doch dieser fuchtelte wild mit seinen Armen und stieß ihn weg. Piet flog erschrocken in die Luft. Was war denn das? Nein, auf ihm hätte es sein Ur- Ur- Opa keine Minute ausgehalten. Papa hatte erzählt, dass der Michel an einem Ort stehen würde, aber dieser schwankte durch das Gedränge. Wahrscheinlich bekam er wenig Luft. Piet ging es ähnlich. Mit einem Kurs auf Nord-Ost flog er weiter.
Nicht weit entfernt stand ein riesiger, steingrauer Mann auf einem Podest mit vielen Stufen. Vielleicht war er es?
„Bist du der Michel?“, fragte Piet aufgeregt und setzte sich auf seinen kahlen Kopf.
„Michel? Michel, oh mein Michel, was habe ich nicht alles für dich getan?“
Piet war verwirrt: „Wer bist du?“
„Ich, heiße Bismarck.“
„Aha, und du kennst meinen großen Michel?“
„Nein“, antwortete Bismarck, „ich kenne nur den kleinen Michel mit der Zipfelmütze, und der ist ein Symbol für Deutschland.“
Ein Symbol, das ist der große Michel auch, hatte Papa gesagt, aber für Hamburg. Grimmig starrte Bismarck in seinem Mantel und mit Schwert in eine Richtung. Er interessierte sich nicht weiter für die kleine Möwe. Piet merkte, dass mit dem Herrn Bismarck nicht gut Kirschenfuttern war, kehrte ihm den Rücken zu und flog weiter.
Langsam wurden seine Flügel schwer. Wie soll so ein kleiner Vogel wie ich in einer so großen Stadt jemanden finden? Dann erblickte Piet einen Turm mit Säulen. Von da oben könnte ich über die ganze Stadt blicken und den Michel suchen. Doch als er am Eingang des Kirchturmes ankam und nach oben guckte, sank ihm der Mut. Das schaffe ich ja nie! Viele Menschen traten in das Gebäude. Piet flatterte neugierig hinterher. Er flog die Stufen eines Geheimganges hinauf und landete vor einem Tor, das sich öffnete. Es ging wieder zu, und er war mit den Menschen in einem kleinen Raum eingeschlossen. Er hatte Angst. Doch als das Tor sich wieder öffnete, waren vor ihm auf wundersame Weise die Säulen, die er eben noch von unten bewundert hatte. Wie schön war es hier oben!
Eine Melodie schwebte in der Luft. Auf dem Balkon unter ihm entdeckte er einen Mann in blauem Gewand mit einer schwarzen Mütze. Er spielte Trompete. Die Musik steckte ihn an, und er jaulte aus Leibeskräften mit. Eine Frau direkt neben ihm hielt sich die Ohren zu.
„So ein Gekreische!“, meckerte sie.
Gefiel ihr die Musik des Bläsers etwa nicht?
Piet segelte zum Trompeter: „Ich weiß zwar nicht, wie es unter deinem Hut aussieht, aber bist du der Michel?“
Der Mann lachte: „Ich bin der Turmbläser, und du befindest dich auf dem Michel.“
Piet war sprachlos.
„Hat da jemand nach mir gefragt.“
Eine tiefe Stimme drang aus der mächtigen Uhr direkt über ihnen.
„Hallo, bis Du der Michel, auf dem mein Ur-Ur- Opa Anton Jahre lang genistet hat?“, fragte Piet.
„Anton, die Möwe? Oh ja, ich erinnere mich noch gut an meinen kleinen Freund. Das waren Zeiten.“
„Oh Michel“, freute sich Piet, „kannst du mir davon erzählen, warum du vor 100 Jahren gebrannt hast, und Anton fliehen musste?“
„Ja, ich erinnere mich aber ungern. Das Kupfer an meinem Turm wurde gelötet, und dabei fing die Holzkonstruktion Feuer. Es breitete sich rasch bis zum Kirchenschiff aus und griff auch die Nachbarhäuser an. Dein Ur-Ur- Opa musste mit einigen anderen flüchten. Leider schafften es nicht alle“, sagte Michel traurig.
„Wer nicht?“, fragte Piet.
„Mein tapferer Freund Carl Beurle. Er bewachte den Turm. Als er das Feuer bemerkte, meldete er es gleich der Feuerwehr, konnte den Flammen aber selbst nicht mehr entkommen. Ohne ihn hätte der Brand noch größeren Schaden angerichtet. Viele Schätze in meinem Inneren wurden zerstört, aber zwei blieben erhalten.“
„Welche?“, fragte Piet.
„Zum einen der 250 Jahre alte Taufstein. Er diente schon vielen Kindern, die getauft wurden. Ich mag Kinder. Man nennt mich auch St. Michaelis Kirche oder Gotteshaus. Dieser Gott hat ein großes Herz für Kinder. Gottes Sohn, Jesus, sagte einmal: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.“ Das sagte Jesus, obwohl alle anderen dachten, sie würden stören.“
Piet lachte.
„Ja, mit Kindern habe ich auch viel Spaß.
Und was hat den Brand noch überstanden?“
„Der Gotteskasten.“ „Der Gotteskasten...?“
Piet runzelte seine Möwenstirn.
„Ja“, erklärte Michel, „ im Gotteskasten wird Geld für die Menschen in der Gemeinde gesammelt, die wenig haben. Ich wurde ursprünglich 1660 als Kirche für die Armen gebaut, die sich nach dem dreißigjährigen Krieg außerhalb der damaligen Stadt ansiedelten. Aber leider brannte ich 90 Jahre später durch einen Blitz vollständig ab. Danach entwarf mich Ernst Georg Sonnin im damaligen Stil. Nach seinen Entwürfen werde ich immer wieder aufgebaut, auch nach dem Brand, bei dem dein Ur- Ur- Opa floh. Sonnin hat mir damals den Gotteskasten geschenkt.“
„Bist Du immer noch eine Kirche für die Armen?“
„Ja, für arm und reich, jung und alt, für jedermann. Die Leute hören hier von Gott, der sie liebt. Manche lauschen Konzerten, und viele genießen den Ausblick vom Turm.“
„Oh ja, der ist schön!“
„Ja“, schmunzelte Michel, „nur leider werde ich alt, und immer wieder müssen Dinge an mir erneuert werden. Das kostet viel Geld. Aber es gibt tolle Menschen, die mir helfen, dass ich erhalten bleibe.“ Piet war begeistert.
„Du bist echt der schönste und freundlichste Michel, der mir je begegnet ist. Und glaube mir, ich habe so meine Erfahrungen mit Micheln.“
Die Uhr schmunzelte.
„Leider muss ich zurück ins Nest, aber beim nächsten Mal möchte ich dich von innen kennen lernen. Ich komme also wieder, großes Möwen-Ehrenwort."
„Darauf freue ich mich, kleiner Freund!“, sagte Michel. Piet gab seinem neuen Freund einen dicken Schmatz auf das Ziffernblatt und flog vergnügt in Richtung Elbstrand.

Alle Rechte zu diesem Text gehören Kerstin Langhoff


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