KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank...
Donnerstag, 22. Februar 2007
Wie Fett auf der Suppe
1. Kapitel

Kälte überzieht die Fensterscheibe mit Milch
Die Welt ist vernebelt.
Hier drinnen Dampf,
ein brodelnder Kessel.

Jeden Moment läuft er über,
doch immer noch drückt der Deckel nach unten.
Hier drinnen ist es stickig
Hier drinnen ist es fad.

Versperrte Sicht nach außen.
Kleine Tropfen rinnen an der Scheibe hinab,
bilden eine Lache am Boden.
Mein Socken wird nass.

Mir reicht’s!
Mein Pulloverärmel wischt ein Loch in die Scheibe.
Jetzt ist er nass- und dreckig,
aber ich habe endlich Durchblick.

Wann wird mein zweiter Ärmel schmutzig?
Wie weit will ich gehen?
Wie weit, um den Durchblick zu wahren,
um nicht zu verdunsten im Mief von Mama?


Das Licht der Straßenlaterne bricht sich in den Eiszapfen, die an ihr kleben.
Draußen wieder der Typ mit den Zeitungen. Er schmeißt sie vor die Haustüren, schwingt sich auf sein Skateboard und düst ab.
Alles an ihm ist cool, seine weiten Pants, seine Baseballkappe und wie er die Zeitungen über die Zäune vor die Türen knallt.
Jede Woche Zeitungen austragen für ein bisschen Taschengeld? -
Mir geht es gut, ich muss das nicht. Muss oder darf das nicht?
Mama hat’s halt. Sie nervt damit! Will mir immer was aus der Stadt mitbringen, obwohl mein Zimmer überquillt. Lippenstifte, Pumps, Glitzerketten...., will ich gar nicht, ist überhaupt nicht mein Ding. Mama will mir einreden, ich müsste voll drauf stehen.
Wieso?
Ich sitze wieder an meinem Schreibtisch, schreibe. Kann dabei atmen, wenn sie mir die Luft zuschnürt. Mama würde mich lieber vor dem Fernseher sehen, sie hat Angst vor meinem Schreibtisch, Angst vor den Gedanken, die ich hier aufschreibe.
Jetzt lacht sie in der Küche. Ihre Kollegin ist zum Abendessen gekommen. „Nur kleine Happen- Sushi, gesund und geht nicht auf die Hüften. Man kann ja leider nicht mehr wie man will.“
Mama nennt ihre Kollegin Schleiereule oder Dampfnudel, natürlich nur, wenn sie nicht in der Nähe ist. Jetzt ist sie ganz freundlich zu ihr, lacht, als würden sie sich blendend verstehen.
„Die kriegt nie jemanden, wenn sie nicht ein bisschen was aus sich macht“, flüstert sie mir mit vorgehaltener Hand zu, als ihre Kollegin geht. Die hätte zwar 'ne Oberweite, würde die aber verstecken. Dann stupst sie mich an und quiekt: „Na, hast du den Push-up und das T-shirt schon ausprobiert? Macht dich unwiderstehlich!“ Dabei kichert sie und zwinkert mir zu.
Das T- shirt ist 'ne Zumutung. Hat 'nen Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Abartig! Warum soll ich das überhaupt tragen? Für wen und warum muss man mich „unwiderstehlich“ finden?
Würde am liebsten aus der Tür rennen. Dem Skateboarder hinterher. Halt's hier echt nicht aus, dieses blöde Gegacker.
Kein Wunder, dass Papa weg ist. Jetzt macht er voll auf Karriere, und mich lässt er zurück.
Ja, nächstes Jahr im März seh' ich ihn, aber das dauert noch drei Monate.
Warum ist er einfach abgehauen. Mama war doch nicht die einzige in seiner Familie. Was ist mit mir? Wir hatten doch so viel Spaß beim Fußball oder Monopoly oder einfach Witze reißen. Wenn wir mit unserem Gealber anfingen, hat sich Mama immer ausgeklinkt, einen auf Zicke gemacht und schon hat Papa aufgehört und ist nur um sie gewuselt. Warum?
Warum hat er nicht „seinen Schuh durchgezogen“, hat einfach weiter gemacht?
Warum dreht sich alles um sie, bis einem schwindelig wird und einer nach dem anderen abspringt.
Ne, so wie sie sein, das will ich bestimmt nicht, auch nicht den Glitter und ihre blöden Push- up BHs.
Jetzt hör ich sie, sie kommt in mein Zimmer, natürlich ohne anzuklopfen.
„Hey Süße, man die Nudel hat mich wieder vollgesülzt. Komm doch ins Wohnzimmer, wir haben dir ein paar schicke Sushi- Happen übrig gelassen!“
„Ne, ich muss noch mal los. Hab' was vergessen.“
„Noch mal los? Wo musst Du denn, mein Gott, um kurz nach acht Uhr abends noch mal hin. Rauchst du? Ist ja okay, kannst du mir ja sagen, oder hast du 'ne Flamme? Kannst du mir ruhig sagen, ist okay, gehört doch in deinem Alter dazu. Ich wunder mich sowieso schon, wann du mir von deinen ersten Liebesabenteuern erzählst. Wenn du die Pille brauchst, kein Problem, ich geh mit dir zum Arzt. Du musst es ja nicht so schlimm wie ich durchmachen. Meiner Mama durfte ich nichts sagen, na ja, und dann ist es mit deinem Dad passiert.“

„Ne, ne, keinen Freund, nichts, kein Rauchen, nichts, will mir nur mal die Beine vertreten.“
Ich schaue in ihr Gesicht. Wie immer ein großes Fragezeichen unter ihrem dicken, porenstopfenden Make-up.
Ich renne zur Garderobe, nehme meinen Schal, meine Mütze und Jacke und- weg bin ich. Kein Bock auf nur einen Piepston von ihr mehr.
Unten mache ich mir in Ruhe den Parka zu. Eiskälte schlägt mir entgegen.
Ich vergrabe meine Hände in den großen Taschen und krall mich am Futter fest.
Meine Nase tief im dicken Wollschal versunken.
Dann geht`s los, nur wohin?
Hab keine Peilung, nur weg. Hab keine Freundin, keine, die weiter denkt, keine die mich versteht.
„Sei doch froh, das du so 'ne coole Mam hast", heißt es immer, "unsere erlauben uns fast gar nichts!“
Darauf kann ich dann nichts mehr sagen, sie verstehen mich einfach nicht.
Der Junge mit dem Skateboard geht mir durch den Kopf. Wohin der wohl gefahren ist?
Fand ihn irgendwie faszinierend. Machte alles so mit links. Was er wohl denkt, wenn er die Zeitungen ausfährt, was er sonst so macht? Ob er lustig ist, die Sonnenseite sieht?
Würd’ mir so jemanden manchmal als Freund wünschen. Ich find alles so kompliziert, seitdem Papa weg ist.
Denke, dass keiner mich versteht, mit mir durch die Gehirnwindungen in meinem Kopf durchsteigt. Versteh' mich ja selbst nicht.
Zwei kleine Kläffer kommen mir entgegengetrabt.
Frauchen im weiten lila Trenchcoat schreit hinterher, keift sie an, zieht sie streng an der Leine zu sich und sieht mich von unten entschuldigend an.
„Halb so wild!“, sag ich und geh weiter. Ich suche den Jungen auf dem Skateboard.
Gehe an meinem Park vorbei. Meine Bank ist nicht besetzt, aber jetzt im Winter ist es ja auch zu kalt. Würde gerne hier sitzen und mit meinen Gedanken im Wasser versinken. Kann es aber nicht. Die Kälte lässt meine Gedanken erstarren. Doch alles ist besser als im Dunst zu sitzen. Ein Mann kommt mir entgegen, hat ein Gesicht, in dem trichterförmig alles auf die Nasenspitze zuläuft, schaut mich grimmig an, als hätte ich ihn aus dem Schlaf gerissen und geht keuchend an mir vorbei. Unangenehmer Rauchergestank gemischt mit Alkohol.
Jetzt höre ich ihn klappern, so als ob ein Skateboard über den Plattenbürgersteig holpert. Ich sehe das Blinklicht, das er sich hinten an seinen Rucksack befestigt hat.
Ich kenn' ihn nicht, aber irgendwie fühl ich mich von ihm angezogen?
Warum, ich weiß es nicht. Es gibt Menschen, die kann man schlecht riechen, und es gibt solche, die siehst du einmal und denkst, der denkt wie du, der versteht dich, der lacht über dasselbe und ärgert sich über die gleichen Sachen. Bei dem ist es einfach schön, bei dem kommst du irgendwie nach Hause. Zuhause, wo ist mein Zuhause?
Ich hab ihn jetzt dreimal gesehen, von meinem Fenster aus. Das sind zehn Meter und doch fühlt es sich an, wie zehn Zentimeter, als würde er vor mir stehen und sagen: „Ja, das fühl ich auch.“
Ich laufe schneller, ihm hinterher. Meine Gefühle mischen sich mit meinem Verstand.
„Du denkst zu viel!“ Das sagt Mama immer, wenn ich mit ihr über ein Thema reden will, das mich beschäftigt, und ich merke, dass sie sich noch nie nur einen Bruchteil mit dieser Frage beschäftigt hat. Ich höre dann auf, und sie denkt, ich hätte mit ihrem Satz alle Gedanken brach liegen lassen und ist zufrieden. In mir aber schmort die Abneigung gegenüber einer Oberflächlichkeit, die wie Fett auf der Suppe schwimmt.
Der Skateboarder ist anders, das spür' ich. Der brauch' bei meinem Fragen bestimmt noch nicht mal nachfragen, weil er sich schon lange mit der selben Sache beschäftigt.
Ich will ihn treffen, hab' aber Angst. Was soll ich sagen, wenn ich ihm begegne?
Hey, ich hab das Gefühl, du denkst wie ich?
Egal, ich will hinterher. Einfach in seiner Nähe sein. Vielleicht frag' ich ihn, wie er zu dem Job mit dem Zeitungsaustragen gekommen ist, weil ich auch einen suche. Was auch irgendwie stimmt. Hätte auch mal Lust, mein eigenes Geld zu verdienen und nicht das zu bekommen, was Mama sich aus den Taschen von drei Männern jammert. Mein Papa tut mir dabei besonders leid, obwohl er echt genug hat, seitdem er den Filmjob in Amerika hat.
Vielleicht wird er ja mal berühmt.
Ich bin echt stolz auf ihn. Aber auch sehr traurig, fühl mich von ihm verlassen und hab das Gefühl, dass er mich nicht mehr liebt, auch wenn er mir immer schreibt, dass ich seine kleine Prinzessin bin- und das mit 15 Jahren.
Würde auch gerne so ’nen tollen Freund haben, der so ist wie Papa. Papa findet mich kreativ, meine Geschichten, die ich schreibe. Mama hat dafür überhaupt keinen Sinn. Sie hat, außer ihren Illustrierten, glaub' ich, noch nie ein Buch gelesen.
Mama und ich sind so verschieden. Papa ist mir viel ähnlicher. Warum hat er mich nicht mit nach Amerika genommen, hätte da doch auf so 'ne High School gehen können. Wäre mal was ganz Neues. Hier hab ich doch nichts, keine Freundin, eine nervige Mutter und Oma, die sich auch immer seltener blicken lässt, weil Mama sie so blöd behandelt. Vielleicht hab ich nur den Skateboarder, und den kenn' ich noch nicht einmal.
Jetzt hält er an, bei Udos Imbiss. Er geht rein. Will er die Zeitung abgeben oder sich vielleicht was zu essen kaufen. Udo kenn' ich, da geh ich jetzt auch rein und hol' mir zwei Wiener.
Jetzt stehe ich vor der Tür zum Imbiss. Oh nein, soll ich wirklich rein gehen...?
Die Tür geht auf, oh nein, jetzt steht er vor mir, unsere Augen streifen sich, er hält mir die Tür auf. Ich mach' einen Schritt hinein, aber, jetzt ist er wieder draußen.
„Hallo Lisa!“
Udo hat mich schon entdeckt. Wie soll ich jetzt erklären, dass ich gleich wieder weg muss. Ich hab das Gefühl, meine Hoffnung, ihn heute Abend noch zu treffen und ein Wort zu wechseln, läuft wie Sand durch meine Hände. All die Spannung versiegt.
„Hallo, Udo, zwei Wiener, bitte!“
Oh nein, jetzt fragt mir Udo bestimmt Löcher in den Bauch und besonders über meine Mam, für die interessiert er sich nämlich immer auffallend. Ist doch selbst verheiratet, was will er dann von meiner Mama?“
„Na, wie geht’s zuhause, alles paletti?“ Er beugt sich über die Theke und reicht mir die Wiener auf einer Pappschale. „Senf, musste hier rausdrücken, weißte ja.“
Dann grinst er mich an. „Na, Kleine, alles Paletti zuhause?“
Er wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern dreht sich zu seiner Spüle und wäscht zwei Biergläser indem er sie auf Spülbürsten hoch und runterdrückt. Schaum quetscht sich an den Seiten heraus. Dann stellt er die Gläser auf das Abtropfgitter und der Schaum fließt an den Seiten herab und in das Auffangbecken des Gitters. Es ist übersäht mit schwarzen Schimmelflecken.
Ich hab keine Lust zu antworten, wenn er mir nur im Vorbeigehen zuhört und zum zweiten Mal fragt, ob alles paletti sei! Was ist überhaupt paletti? Und wenn, ich find' gar nichts paletti, find grad alles ätzend, besonders, dass der Typ mit dem Skateboard jetzt weg ist. Hab mich noch nicht einmal getraut, ihm richtig in die Augen zu schauen. Hab' nur gemerkt, dass er etwa einen Kopf größer ist als ich und ihn kurz gestreift. Er hat mich kurz angeguckt, was er wohl gedacht hat?
Hier ist es warm. Ich ziehe meine Pudelmütze ab und streiche meine Haare hinters Ohr. Fühl mich unwohl, irgendwie beobachtet von den Männern an den Stehtischen. Jetzt kommt Udo wieder zu mir, beugt sich über die Theke:
„Na, schmeckt’s? Gibt’s zuhause nichts oder haste Stress?“
Diesmal wartet er auf eine Antwort. Seine Achselhöhlen sind feucht und auf seiner Stirn perlen die Schweißtropfen. Sein weißes T-shirt ist fast durchsichtig, so dass sich braune Striche von seinen Brusthaaren abzeichnen. Ein kleines Loch etwas oberhalb der rechten Brust.
Zum Glück hab' ich den Mund voll Wurst und kann nicht sofort antwortet. Stattdessen zeig ich mit meinem rechten Zeigefinger auf meinem Mund, tu so, als würde ich schnell kauen, um antworten zu können, während mein Kopf auf der Suche nach einer passenden Ausrede heißläuft. Jetzt ist mein Mund leer, und er sieht mich immer noch mit seinen kleinen Augen an, die von seinen riesigen Pausbacken schon etwas verdeckt werden.
„Nö, alles okay, war nur kurz unterwegs und hatte Lust, mich etwas aufzuwärmen.“
„Na, was macht denn ein Mädchen, wie du, um die Uhrzeit bei der Kälte draußen?“
Er runzelt seine Stirn und schüttelt leicht den Kopf.
„Einkaufen..“, schieße ich hervor und hätte mir im selben Augenblick am liebsten die Zunge abgebissen. Welch' blöde Ausrede und dazu so falsch, denn welcher Laden hat hier noch nach acht auf?
Udo sagt nichts, weil sich gerade die Tür öffnet. Ich sehe wie die Blicke der Männer neben mir an der Türe kleben bleiben.
Ich dreh' mich um. Eine blonde Frau, ungefähr Mitte dreißig, kommt hinein. Sie hat hochhakige Stiefel an, einen kurzen Rock und eine dicke Daunenjacke. Mama würde jetzt vor Neid erblassen, die Männer neben mir kriegen Stielaugen und Udo schenkt meiner Ausrede mit einem Mal keine Beachtung mehr. Ich nehm’ mein Brötchen, was es zu den Würstchen gab, ruf „tschüss!“ und schlüpfe aus der Tür, die nach der Frau, gerade ins Schloss fallen will. Ein süßer, aufdringlicher Parfümduft, begleitet mich noch fast in die nächste Querstraße.
Weg, ein Glück. So schnell werde ich da nicht mehr auftauchen. Ob Udo meiner Mutter was von dem Besuch erzählt? Und wenn, was soll’s.
Mit einem Mal durchfährt mich ein Schauer wie ein Schlag aus der Steckdose. Ich höre es rattern. Der Skateboarder kommt geradewegs auf mich zu. Was soll ich machen?
Kann ich irgendwie auf mich aufmerksam machen. Ich senke meinen Kopf. Schüchternheit überfällt mich wie ein Dieb in der Nacht. Ich kann nicht aus meiner Haut. Er kommt näher. Dann guck' ich nach vorn. In dem Moment, wo ich rechts ausweichen will, will er auch nach rechts ausweichen. Dann mach' ich einen Schritt nach links, doch in dem Moment steuert er sein Skateboard nach links. Er springt ab und hält kurz vor mir, sein Skateboard in der Hand. Wie er das geschafft hat, keine Ahnung. Auf jeden Fall steht er mit einem breiten Grinsen vor mir, und ich schau ihm das erste Mal in die Augen. Es ist wie eine Welle, die von ihm auf mich übergeht. Meine Knie werden ganz weich und ich steh unbeholfen da.
„Hoppla!“, kommt es von ihm. „Wohin des Wegs, junges Fräulein, Sie versperren mir den Weg!“
Immer noch dieses Lächeln und eine freche Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Ich versuche auch zu lächeln, aber meine Mundwinkel ziehen wie Blei nach unten, ich öffne den Mund und hauche nur warme Luft. Mein Herz pocht bis zur Kehle. Der Herzschlag ist wie bei „Hau den Lukas“ auf dem Jahrmarkt- ganz oben. Volltreffer. Es hat mich erwischt, und ich weiß nicht, wie ich diesen Moment festhalten kann. Sag was, irgendwas, schießt es mir durch den Kopf.
„Ähm, ich hab mich verlaufen, kannst Du mir sagen, wie es hier zur Habichtstraße geht?“, kommt es plötzlich mit zittriger Stimme aus mir heraus und mir ist fast schlecht vor Aufregung. Wieso musste mir wieder so ein Mist einfallen. Das checkt der doch sofort, dass ich den Weg kenne.
„Ja, kein Problem. Bist du neu hier? Ich dachte, ich hätte dich irgendwo schon mal gesehen, kommst mir irgendwie bekannt vor.“
„Ja, ich bin neu. Sag mir einfach wie ich laufen muss, dann find ich es schon.“
Mein Blick ist gesenkt, ich weiß nicht, wohin ich gucken soll.
Er hingegen scheint meinen Blick zu suchen. Er ist so furchtbar nett.
„Weißt du was, ich laufe mit dir dort hin, sind etwa zehn Minuten und liegt sowieso auf meinen Weg. Die restlichen Zeitungen trage ich dann morgen aus, ist sowieso ganz woanders und für heute bin ich einfach durchgefroren.“
Jetzt fällt mir die vorgefertigte Frage von vorhin ein.



„Sag mal, ich würd' mir gern was dazu verdienen. Wie bist du denn zu deinem Job als Zeitungsausträger gekommen?“
Immer noch diese hohe zittrige Stimme. Einerseits genieße ich es, so neben ihm zu laufen, andererseits hoffe ich wieder durchatmen zu können, mein Atem drückt sich wie heiße Luft nach oben.
„Hey, das ist eigentlich kein Problem, kann dich meinem Chef gern mal vorstellen, die suchen immer welche. Allerdings musst du ganz schön Strecken abklappern. Kannst du bladen oder skaten?“
„Ne, nichts von beidem, höchstens Fahrrad fahren.“ Mein Blick wandert in seine Richtung. Er läuft rechts neben mir. Dann treffen sich unsere Augen. Schnell guck ich weg. Wieder durchfährt mich ein Schauer. Ich hab das Gefühl, ich müsste wegrennen oder ihm augenblicklich um den Hals fallen. Die Spannung halte ich kaum aus. Was ist das?
„Du, ich hab noch ein Board, etwas älter, aber optimal zum Lernen. Kann ich dir mal geben, zum Üben, kann dir auch 'nen paar Tipps geben, der Rest ist simple üben, üben, üben.“
„Oh, ja gerne, geht dann bestimmt leichter mit dem Austragen.“
„Ja, auf jeden Fall. Wie heißt du eigentlich, ich bin Tjard?“
„Hi Tjard, ich bin Lisa.“
So langsam lockert sich meine Zunge und ich kann ungezwungener reden.

Jetzt liege ich in meinem Bett, starre an die Decke und kann nicht schlafen. Tjard . Wir haben uns verabschiedet und er will übermorgen mal vorbeischauen, wenn er seinen Chef gefragt hat. Mit Mama hab ich kaum geredet, nur kurz „gute Nacht“ und „Ich bin müde“ gesagt. Sie hat etwas komisch geguckt. Ich will allein sein, muss nachdenken. Er geht mir nicht aus dem Kopf, seine tiefe warme Stimme, seine coole Art, seine Freundlichkeit. Kann nicht schlafen..... Tjard.

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Mittwoch, 27. September 2006
Romananfang: Plötzlich war er da
„Damit du nicht vermiefst!“ hatte sie energisch gesagt und mit diesem Satz den Raum wieder verlassen.
Es war der letzte Tag der Sommerferien. Morgen würde er Luke und die anderen wiedersehen. Dann hatte das Gammeln ein Ende. Am liebsten hätte er sich verkrochen, wie früher eine Decke über seinen Schreibtisch gelegt und so getan, als lebe er woanders, in einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit. Wenn er vor seinem Computer saß, war sie zum Greifen nah, die andere Welt. Er konnte abtauchen und Luke und die anderen Jungen in seiner Klasse vergessen. In seinem Computerspiel war er ein Ritter, der tapfer gegen alles kämpfte, was ihm in die Quere kam. Zudem hatte er dort echte Freunde, solche, die mit ihm durch Dick und Dünn gingen.
Im wirklichen Leben hatte Linus keinen richtigen Freund und auch keine Geschwister. Papa hatte einen Zwillingsbruder, Onkel Martin. Sie waren wohl schon als Kinder unzertrennlich gewesen. Anscheinend kannte Papa das Gefühl der Einsamkeit nicht. Jedes mal, wenn Linus ihm etwas davon andeutete, ließ Papa seine Zeitung in den Schoß sinken, schob seine halbe, randlose Lesebrille zur Nasenspitze, damit er Linus über die Gläser hinweg anstarren konnte, schüttelte den Kopf und seufzte:
"Ich versteh' dich nicht, Junge."
Dabei fühlte sich Linus, als sei er nicht normal, als würde ein Arm aus seinem Bauch wachsen oder ähnliches. Bei Mama bildeten sich bei seinen Andeutungen Sorgenfalten auf der Stirn, und sie wurde hektisch. Helfen konnte sie so auch nicht. Also hatte er aufgegeben, Papa und Mama von seinen Gefühlen zu erzählen. Sie verstanden ihn nicht. Er spürte die Einsamkeit wie Schneeregen, der durch seine Kleidung drang und sich an seinen Gliedern festsetzte. Heute fröstelte er ganz besonders.
Um seine mürben Gedanken zu betäuben, setzte er sich an seinen Computer und beschloss, den Rest des Tages mit den Rittern und Drachen in der Computerwelt zu verbringen.
„Hast du deine Schultasche gepackt?“
Seine Mutter steckte am Abend ihren Kopf durch den Türspalt und war in der Sekunde darauf schon wieder verschwunden.
Linus packte seinen Ranzen. Dann zog er seinen Schlafanzug an, legte sich ins Bett und starrte im Halbdunkeln an die Decke. Er hatte die Rollläden nicht ganz herunter gelassen, weil er das leere Schwarz fürchtete. Die Autolichter beruhigten ihn. Sie schwebten durch den Rollladenspalt in sein Zimmer, huschten wie an einem durchsichtigen Faden an der Decke entlang und waren daraufhin wieder verschwunden. Es war, als würden sie ihm einen kurzen Besuch abstatten.
"Ein Zwilling, das wär’s“, grübelte Linus.
Irgendwann verschwammen die Lichter, und es wurde Nacht.

Sein schriller Wecker klingelte um Punkt 6:30h. Linus schlug seine Bettdecke zurück, setzte den rechten Fuß auf den Laminatfußboden und zog den anderen nach. Dann stützte er seinen Kopf zwischen die Hände, als ob er sonst vom Hals fallen könnte. Seine linke Hand rieb seine Stirn, und er öffnete langsam die Augen.
Ihm verschlug es den Atem. Gegenüber saß ein Junge. Er war nur zwei Meter von ihm entfernt und stand an einem Bett an der anderen Zimmerwand. Es war, als würde ein Spiegel das Zimmer teilen und seine Schlafecke genau auf der anderen Seite abbilden. Doch auf der Seite des Jungen war ja das Fenster. Zudem bewegte sich der Junge, während Linus wie zu Eis erstarrt auf der Bettkante klebte.
„Wer bist denn du?“ flüsterte Linus und blieb regungslos sitzen.
Der Junge drehte sich zu ihm um, würdigte ihn nur eines kurzen Blickes, schüttelte den Kopf und raunte: „Ich glaube, du hast wieder mal schlecht geträumt. Kommt ja nicht gerade selten vor.“
Dann nahm er ein weißes T-shirt aus Linus Schrank, stülpte es über den Kopf und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte Linus im Bad nebenan die Klospülung. Linus konnte es nicht fassen. Der Junge sah genauso aus wie er. Er hatte blonde, stoppelige Haare, ein schmales Gesicht mit spitzer Nase, die sich, vom Betrachter aus, leicht nach rechts bog, kleine wasserblaue Augen mit langen Wimpern, die von einer randlosen, großen Brille für Kurzsichtige geschützt wurden. Auch der schlaksige Körper war eine Kopie seines eigenen. Linus kniff sich in den Oberarm. Das musste ein Traum sein.
Für den anderen schien die Begegnung mit Linus allerdings weniger spektakulär. Als er das Zimmer wieder betrat, packte er seinen Schulranzen, als gehöre er schon seit Ewigkeiten hierher. Dabei kramte er in Linus Schreibtischfächern und nahm sich das ein oder andere heraus.
„Hey, Moment mal, was machst du da, das sind meine Sachen.“ Linus wurde wütend.
„Nun mal ruhig Blut, Kleiner, die selben Sachen gibt es noch mal in dem Schreibtisch auf deiner Seite, nur vielleicht zwei Nummern kleiner, damit sie zu dir passen.“
Tatsächlich, da war ein zweiter Schreibtisch mit Stuhl und Computer. Über Nacht hatte er es sich hier wohl schon wohnlich eingerichtet. So mir nichts dir nichts hatte er sich in Linus’ Leben gedrängt. Ein Zwilling. Natürlich, gestern hatte er sich noch nach einem gesehnt. Doch sollte sein Wunsch tatsächlich wahr geworden sein? Wer nahm seinen Wunsch so ernst, dass er ihm tatsächlich einen Zwillingsbruder verabreichte?
Linus schaltete sein Gedankenkarussell im Kopf ab und beschloss, seiner morgendlichen Routine zu folgen und abzuwarten, was am Frühstückstisch passierte.
Im Bad machte der andere sich vor dem Spiegel unverschämt breit, so dass Linus seine Haarstoppeln im Gästeklo steilen musste. Doch wo war sein Gel? Natürlich, sein neues Gegenüber presste mit einem Furzgeräusch die restliche Masse aus der Tube. Linus qualmte vor Wut, sagte aber nichts. War er nur zweite Wahl? In allem schien ihm sein Zwilling voraus. Und er, war er nur eine traurige Kopie, oder war er das Original? Das war doch eine verkehrte Welt. Er war ja zuerst da gewesen. Warum schummelte sich jemand Neues so mir nichts dir nichts von null auf Platz eins? Aber es war ja nicht das erste Mal, dass Linus sich so fühlte. Seine sogenannten Freunde nannten ihn „den Lahmarsch“ oder „Butler“. Wie er das hasste. Doch ihm fehlte der Mut, sich zu wehren. Dann würde er vielleicht auch noch seine angeblichen Freunde verlieren.
Nachdem Linus seine Haare so gut es ging mit Wasser geformt hatte, trotte er hinter seinem Doppelgänger die knarrende Treppe hinunter. Der andere setzte sich gleich auf seinen Platz. Ihm blieb nur der Platz auf dem Oma saß, wenn sie zu Besuch kam. Gespannt blickte er in das Gesicht seiner Mutter. Sie ließ sich nichts anmerken.
„Na, Linus und Paul, wie sieht’s aus mit einem Müsli für den guten Start in ein gesundes Schuljahr?“ begrüßte sie ihre Jungen.
Linus starrte seine Mutter an. Wieso kannte sie den, den sie Paul nannte?
„Äh, Mama“, er zögerte, „fällt dir denn gar nichts auf?“
„Doch Linus“, Mama lächelte, „so gefallen mir deine Haare viel besser als mit diesem seltsamen Igellook.“
Das war nun nicht gerade das, was Linus hören wollte. Seine Mutter nahm seinen „Möchte-gern- Bruder“ einfach so hin, so, als sei er schon immer da gewesen. Er fühlte sich mit einem Schlag noch einsamer als am Abend zuvor. War er oder die Welt um ihn verrückt, warum teilte keiner seine Situation? Ganz plötzlich musste Linus seine Eltern mit einem Fremden teilen.
Sein Vater steckte mit seiner Nase wie immer im aktuellen Zeitgeschehen. Er dachte gar nicht daran, seinen Sohn zum Gruß anzuschauen. Vielmehr nuschelte er ein abwesendes „Guten Morgen“ in den Vollbart. Es hätten ihm auch zwei gelbe Mondmänner mit Zylindern gegenüber sitzen können. Mechanisch reichte er die Milch, wenn danach gefragt wurde. Es wäre ein Versuch wert, ihm ein Versprechen über eine Taschengelderhöhung abzuschwatzen. Vielleicht öffnete er dann genauso mechanisch die Brieftasche. Aber Linus würde sich das nie trauen.
Er starrte auf seinen „Was- weiß- ich- Zwilling“. Hastig verschlang dieser sein Müsli, und blickte nicht einmal auf. Er fühlte sich unbeobachtet. Anscheinend war Linus für ihn selbstverständlich. Offensichtlich war er mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. Linus konnte vor Aufregung nichts essen. Er hoffte auf den großen Knall, bei dem sein Traum wie ein Luftballon platzte, und er erneut aus seinem Bett krabbelte, ohne Zwilling.
„Nun schling doch nicht so, das bekommt deinem Magen nicht!“ nörgelte seine Mutter an Paul herum und übersah dabei die unangetastete Schale ihres „eigentlichen“ Sohnes.
„Gar nicht schlecht, wenn man nicht im Mittelpunkt steht“, versuchte Linus das Ganze mit Humor zu sehen.
So schnell, wie Paul seine Jacke und Schuhe anzog, konnte Linus gar nicht gucken.
Schon war er zur Tür heraus, und die Mutter seufzte: „Was ist bloß mit dem Jungen los?“
Sie sah Linus an. Linus zog die Schultern hoch.
„Was weiß ich, ich kenne den noch nicht mal“, hörte er sich sagen.
Die Mutter stöhnte: „Ja, ich kenne Paul auch kaum wieder. Ob das mit dem jungen Mädchen zusammenhängt? Wie heißt sie gleich, Mareike?“
Mareike? Hatte er richtig gehört? Wenn das stimmte, wurde es jetzt spannend. Mareike war sein heimlicher Schwarm. Sie hatte blonde Locken, ein bezauberndes Lächeln und war Klassensprecherin der Parallelklasse. Er beobachtete sie von dem Fenster im Gang, wenn sie auf dem Schulhof mit ihren Freundinnen redete oder auf dem Sportplatz, wenn sich beide Klassen, für die Leichtathletik- Bundesjugendspiele vorbereiteten. Doch sie würdigte ihn bisher keines Blickes. War auch klar, ein Mädchen dieses Kalibers. Wie oft hatte er sich vorgestellt, mit ihr befreundet zu sein, aber er hatte noch nicht einmal ein Wort mit ihr gewechselt. Was hatte Paul mit ihr zu tun? Ging er in ihre Klasse? Er musste Paul hinterher jagen. Vielleicht würde er ihn ja noch einholen. Oder hatte er sich vielleicht mit einem Mal in Luft aufgelöst? Linus überprüfte den Frühstückstisch. Es war wie immer: Papa las in der Zeitung und Mama deckte den Tisch ab. Hatte er tatsächlich alles geträumt? Aber halt, Mama räumte vier Gedecke in die Spülmaschine. Er war sich ganz sicher. Dann rannte er zum Schulbus.
Kurz bevor Linus das Klassenzimmer erreichte, sah er ihn wieder. Paul stand ein paar Meter von der Klassentür entfernt. Mareike saß auf der Betonfensterbank und Paul stand dicht neben ihr. Als Linus hinüberschielte, erhaschte er Mareikes lächelnden Blick. Aber er galt nicht ihm, sondern Paul. Linus spürte einen Stich. War Paul in sein Leben gekrochen, um alles anzufressen, was ihm gehörte, wie eine Motte einen Wollpulli? Jede kleine Hoffnung? Wie gerne würde er jetzt in Pauls Situation stecken. Dieses Lächeln war mehr, als er sich je von Mareike erträumte.
Keiner schien sich an Paul zu stören, im Gegenteil. Er gehörte dazu wie Herr Gruber zum Lateinunterricht der Klasse 7b.
Das allmorgendliche Schlurfen seines Lateinlehrers riss ihn aus seinen Gedanken. Die schwarze Gestalt bewegte sich langsam den Gang hinauf. Auch Paul hatte es bemerkt, drehte seinen Kopf zum Gang, richtete ihn wieder auf Mareike und dann passierte das Unfassbare: Er drückte Mareike einen Kuss auf die Stirn. Das konnte doch nicht wahr sein! Sein neuer Bruder hatte es geschafft. Er hingegen kam sich vor, wie ein Privatdetektiv in eigener Sache. Verstohlen wollte er in den Klassenraum schleichen, als ihm Paul von hinten auf die Schulter schlug und mit „Na, alles locker?“ begrüßte.
Gar nichts war locker. Er fühlte sich elend. War das alles echt, oder litt er gar unter Halluzinationen, Bilder, die es gar nicht gab?
Im Klassenraum setzte Paul sich wie selbstverständlich neben ihn. Nun konnte er alles beobachten, was Paul machte.
Der „Totengräber“, so wie die Klasse ihren Lehrer Herrn Gruber nannte, war mit seinem Latein am Ende. Keiner wollte den uralten Text ins heutige Deutsch übersetzen. In seinem schwarzen Anzug lehnte er vor dem Lehrerpult, blickte über seine hinabgerutschte Hornbrille und machte sich wie immer einen Viertel Meter kleiner, weil seine Schulter spannungslos nach unten hingen. Dabei seufzte er und strich sich mit der linken Hand über seine Mönchsfrisur, während seine rechte „Cicero“ hielt.
Paul krickelte unter seinem Buch einen Brief an Mareike. Doch im Gegensatz zu Linus, fand er gleich den Anschluss, als der Totengräber ihn mit dem Zeigefinger zum Übersetzen aufforderte. Er schaffte es fast fehlerfrei. Der Totengräber lächelte. Das kam selten vor, denn es schien ihn ungemein anzustrengen, die Zähne auch nur millimeterweit voneinander zu lösen. Es war, als hätte er seine Haftcreme für die Prothese nicht nur unter die künstlichen Zähne, sondern auch darauf geschmiert. Deswegen sprach er wohl auch so leise.
Nun war Linus an der Reihe. Er stotterte. Wo hatte Paul aufgehört? Doch dann schob ihm Paul einen Zettel hinüber.
„Wie nett von ihm“, dachte Linus.
Langsam las er das Geschriebene vor, so, als würde er den Text im selben Moment übersetzten:
"Gruber in der Grube,
saß und schlief,
saß und schlief,
armer Gruber bist du krank,
dass du nicht mehr lachen kannst...“.
Erst jetzt hörte Linus das Kichern seiner Mitschüler. Er blickte zu dem toternsten Totengräber, der ihn ohne ein Wort mit seinem ausgestreckten Arm aus dem Klassenzimmer verwies.
Linus wusste nicht, wie ihm geschah. Warum war er darauf reingefallen, und warum hatte er nicht gemerkt, welchen Schwachsinn er vorgelesen hatte?
Wer weiß, wann der Totengräber ihn wieder hereinholen würde.
Er setzte sich auf die Betonfensterbank und schaute durch die Scheiben in die gegenüberliegenden Klassenzimmer. Da war sie wieder. Sein Blick versank in ihre blonden Locken, die über ihre linke Gesichtshälfte fielen. Wegen ihr wäre er am liebsten in Pauls Haut, obwohl er Paul jetzt hasste. Paul hatte ihn vor der ganzen Klasse vorgeführt. So hatte er sich einen Zwillingsbruder nicht vorgestellt. Er war ganz anders, als seine Kameraden im Computer.
Die Klassentür ging auf.
„Du kannst reinkommen“, krächzte der Totengräber. Er blieb am Türpfosten angelehnt stehen. Linus rutschte vom Fensterbrett und quetschte sich dicht am anderen Türpfosten vorbei, um den Totengräber nicht zu streifen.
Im Vorbeigehen nuschelte sein Lehrer: „ Das war eine sechs, Paul. Und nun mach, dass Du neben Deinen Bruder kommst!“
Paul? Hatte er richtig gehört? Er hielt ihn für Paul? In einer höheren Klasse war das schon mal passiert. Da hatte der Totengräber bis zum Abitur zwei Schwestern vertauscht, die Zwillinge waren. Selbst als sie sich die Haare unterschiedlich schnitten und färbten, hatte er sie noch verwechselt. Linus schmunzelte. Das geschah Paul recht! Immerhin hatte er ihn reingelegt.
Auf dem Weg zu seinem Pult stieß ihn Luke an: „Was grinst du denn so blöd?“
Aber das war sein Geheimnis, das war sein Trumpf, das war das, was ihm noch blieb, seitdem Paul in sein Leben gekrochen war.

Hier geht es bald weiter...

Alle Rechte sind der Autorin Kerstin Langhoff vorbehalten.

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Sonntag, 3. September 2006
Romananfang: Die sieben Türen
Mias zwölfter Geburtstag endete da, wo sie es nie vermutet hätte. Am Morgen war sie von Zuhause weggelaufen, zu einem nahegelegenen Bauplatz. Doch, wo war sie jetzt?
Der Tag hatte begonnen, wo er eigentlich immer beginnt: in ihrem Bett in der Wolffsonstraße in Neustadt. Ein Sonnenstrahl hatte sich durch die Vorhänge geschlängelt und sie geweckt. Das war ihr Morgen, den sie sich so herbeigesehnt hatte! Ein Blick auf ihren Wecker verriet, dass es erst kurz nach halb sieben war. Damit die alten Treppenstufen unter ihren nackten Füßen nicht knarrten, und sie damit verrieten, stützte sie sich am Holzgeländer ab. Die untersten Stufen übersprang sie mit einem Satz. Zu ihrer Enttäuschung drang Licht aus der Küche. Auf dem Küchentisch stand eine große Platte mit Kirschkuchen, den sie besonders wegen der dicken Streusel liebte. Bei diesem fehlten sie allerdings, besonders die dicken! Jemand hatte den Kuchen angeknabbert. Hinter ihr hörte sie ein lautes Schnaufen. Als sie sich umdrehte, stand er mit seinem breitem Grinsen vor ihr. Leo. Er war einen Kopf kleiner, aber um einiges kräftiger. In seinen Mundwinkeln klebten noch die letzten Spuren seines Raubzuges. „Glückwunsch Schwester!“
Ohne ein Anzeichen von Reue, drückte er Mia einen Schmatz auf die Wange. Für sie fühlte es sich an, wie eine dreckige, kalte Hundeschnauze.
„Was fällt Dir ein, meinem Geburtstagskuchen anzuknabbern, Du Blödmann!“
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, reckte ihren Hals nach vorne und biss ihre Zähne zusammen.
„Den Kuchen schaffst Du doch sowieso nicht alleine!“ knirschte Leo, während sein Igelkopf zwischen die Schultern sackte.
Mias Gesicht lief radieschenrot an. Gerade wollte sie für einen Hieb auf seinen Oberarm ausholen, da stellte sich ihre Mutter dazwischen.
„Jetzt verratet ihr mir bitte mal, was das Geschreie am frühen Morgen soll!“
„Der hat meinen Kuchen zerstört!“
„Petze“, Leo rümpfte die Nase.
„Erst einmal herzlichen Glückwunsch, Mia“, ihre Mama band gelassen den weißen Morgenmantel zu und nahm Mia in den Arm.
Wie jeden Morgen roch sie nach frischen Rosen. Doch am liebsten hätte Mia sie heute in ihrer Wut von sich gestoßen.
„Leo, das war echt gemein. Ich möchte nicht, dass Du Streusel vom Kuchen isst. Und jetzt entschuldige Dich bitte bei Mia.“
Mia fehlte wie immer eine gehörige Portion Energie in Mamas Stimme.
„T’schuldigung“, kam es ebenso kraftlos aus Leo hervor.
In Mamas Nähe fühlte er sich vor dem brodelnden Vulkan sicher. Das war wieder einmal ein Trumpf für Leo.
„Das meinst Du doch gar nicht ernst!“
In Mias Inneren kam es jedoch zum Ausbruch. Sie drehte sich auf der Ferse um und rannte die Treppe hoch.
„Beiß dich doch nicht immer so an den Dingen fest. Dein Bruder hat sich doch entschuldigt.“ seufzte ihre Mama hinterher.
Das war zuviel. Es war einfach so ungerecht: Warum durfte er sie verletzten, und sie musste es ertragen? Aus ihren Augen tropften Wut und Verzweiflung. Sie wischte sie mit ihrem Ärmel weg und strich sich ihre Strähne aus dem Gesicht. Kurze Zeit später stand ihr Plan fest. Endlich würde sie es machen. Wie oft war sie ihren Plan schon im Kopf durchgegangen, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen! Mia stellte den Schulranzen auf den Kopf, so dass ihre Rechenhefte und Bücher herausfielen und packte ihn mit ihrem Lieblingsbuch „Tintenherz“, ihrer Taschenlampe , 29,48 €, ihrem gesparten Taschengeld, ihren warmen Kapuzenpulli für kühle Augusttage, Bonbons, einer Sonnenbrille, einem Ostfriesennerz, einer Schaufel und ihrem Kompass von Opa. Damit verließ sie das Haus, nachdem sie am Frühstückstisch ihrer Familie vorgeflunkert hatte, dass alles wieder in Ordnung sei. Papa bekam von alledem nichts mit. Wie immer hing er mit seiner Nase tief im aktuellen Zeitgeschehen und blätterte nur hin und wieder in der Zeitung weiter. Ihre Mutter schien zu merken, dass etwas nicht stimmte. Unentwegt fragte sie nach und beteuerte, wie sehr sie sich auf das Auspacken der Geburtstagsgeschenke nach der Schule freute. Für kurze Zeit wollte sie den Plan schon hinschmeißen, bis Leo ihr hinter vorgehaltener Hand die Zunge herausstreckte. Damit stand ihr Entschluss fest: Mit diesem Bruder konnte man nicht unter einem Dach leben! Ihre Wut und Abenteuerlust überschatteten jeglichen Zweifel.
Nachdem sie außer Sichtweite war, schlug sie mit dem Fahrrad einen Pfad entgegengesetzt zum Schulweg ein. Sie fuhr durch die Kleinstadt in Richtung der Weinebene. In den Gärten der Nachbarschaft schien man jede Laus vom Blatt gewischt zu haben. Kai, Hannahs vier Jahre älterer Bruder, nannte das spießig. In Kai hatte sich Mia ein bisschen verliebt. Sie fand ihn cool, obwohl Hannah sich oft über ihn beschwerte, weil er so faul war und die Hausarbeit immer an ihr kleben blieb. Kai würde sie bestimmt sehr mutig finden, so mir nichts dir nichts von Zuhause auszureißen. Sie fuhr mit dem Fahrrad weiter in die Weinebene.
Die Sonne verwandelte den Morgennebel in einen milchig goldenen Schleier, der sich über die satt behangenen Reben ausbreitete. Schwärme von Fruchtfliegen spielten um die Trauben, so sorglos, als hätte für sie die Ewigkeit begonnen.
Je weiter sie sich von der Stadt entfernte, desto mehr vernahm sie einzelnes Vogelgezwitscher. Die Vögel trotzen den im Wind scheppernden Dosen an den Rebstöcken und mopsten sich hier und da die ein oder andere reife Beere. Unter anderen Umständen hätte Mia die Stimmung geliebt, jetzt kreisten andere Dinge in ihrem Kopf. Sie brütete über den schrecklichen Morgen:
Liebten ihre Eltern ihren Bruder denn mehr als sie? Warum musste sie immer vernünftig sein, während Leo so viel Blödes machen durfte, und das an ihrem Geburtstag? Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. Was hatte sie eigentlich vor, wo sollte sie eigentlich hin? In der Schule würden sie sie auch vermissen. Besonders Hannah würde sich ganz schön wundern. Und was, wenn die Polizei sie fand? Würden ihre Eltern dann wütend auf sie sein oder nur glücklich, dass sie wieder da war?
Zwischen den Weinfeldern schlängelte sich ein sandiger Weg, der zur nächsten Stadt führte. Auf der rechten Seite entdeckte sie in einigen Metern Entfernung ein umzäuntes Gebiet. Große Bagger und Betonmischer postierten auf rostrotem Sand. In der Ferne hörte sie Traktoren durch die Felder rattern. Ansonsten schien keine Menschenseele in der Nähe. Sie war noch nie hier gewesen. Was sollte hier entstehen? Mia wurde neugierig. Von klein auf hatte sie sich für große Maschinen und Häuserbau interessiert. Als Hannas Familie damals ihr Haus bauen ließ, waren sie jeden Tag auf der Baustelle und beobachteten, wie Stück für Stück das Gebäude entstand. Mia wollte sich das Gelände genauer angucken. Wie sich Leute überwinden konnten, auf so hohe Kräne zu kraxeln? Auch sie war sehr mutig, aber vor so einer Höhe hatte sie ganz schön Respekt. Zudem war sie ziemlich neugierig, zum Leid ihrer Eltern, wie es manchmal schien. Früher beantwortete Papa ihre Fragen immer geduldig, doch jetzt wollte er nach kurzer Zeit lieber zurück an seinen Computer. Mama versucht ihre Fragen möglichst schnell abzutun, obwohl sie Mia immer lobte, weil sie sich so für alles interessierte. Mama war Grundschullehrerin. Um sie tanzten jeden Tag mehr oder weniger neugierige Kinder, und vielleicht waren Mias Fragen nach der Schule ihr einfach zu viel. Papa war Artist und Jongleur. Er konnte mit vielen verschiedenen Sachen jonglieren, sogar hinter dem Rücken und wunderbare kleine und große Ballontierchen machen: Hasen, Krokodile, Schildkröten. Er trat vor Kindern und Erwachsenen auf und verdiente damit sein Geld. Er hatte Mia das Einradfahren und Jonglieren beigebracht und damit kassierte Mia auf der Straße immer eine Menge erstaunter Blicke.
Aber so etwas wie Papa wollte sie später nicht werden. Sie wollte Trampolinspringerin werden. Jeden Mittwoch holte sie Hannah dafür ab. Ihre Vorfreude wuchs die Tage davor schon ins Unermessliche. Durch die Luft zu schweben und Saltos zu machen, das war ihr Traum. Morgen war es wieder so weit, aber für sie würde es wohl ausfallen.
Ihr Blick glitt über das Baugelände. Mit einem Mal entdeckte Mia am Rand eine kleine Brücke aus Sandsteinen. Verloren ragte sie einen halben Meter aus dem Boden. Mia bog eine kleine Öffnung im Maschendraht nach oben und schlüpfte hindurch. Sie ging näher heran. "Es muss die Rundung eines Torbogens sein", dachte sie, als sie näher kam. Vor den Sandsteinen war ein Erdloch, gerade groß genug, um hineinzuschlüpfen. Würde sie wieder hoch kommen, wenn sie da hineinkroch? Sie holte ihre Taschenlampe aus dem Ranzen und leuchtete in das Loch hinein. Mehr als den Erdboden in etwa 1,50 m unter ihr konnte sie nicht entdecken. Aber sie konnte sicher gehen, dass sie nicht auf Mäuse, Ratten oder auffällig großen Spinnen landete, wenn sie da hineinschlüpfte. Soweit sie sehen konnte behielt sie mit ihrer Vermutung recht. Die Steine gehörten zu der Rundung eines Bogens. Aber was war das für ein Bogen, und wozu gehörte er? Das würde sie nur sehen, wenn sie in das Loch stieg. Ich kann da unmöglich hineinkrabbeln. Wer weiß, ob ich da wieder herauskomme! Doch je mehr sie sich zu überzeugen versuchte, dass sie besser nicht in den Spalt steigen sollte, desto mehr schienen Funken der Neugierde sie fast zum Platzen zu bringen. Mia kramte ihre Schaufel hervor. Zur Not werde ich mich freischaufeln. Ich muss wissen, ob da unten noch mehr ist. Sie ließ ihren Unterkörper langsam in den Erdspalt gleiten, während sie sich mit ihren Unterarmen am Rand abstützte. Die Erde bröckelte und gab nach, so dass Mia das Loch vergrößerte und mit ein paar Erdklumpen auf den Boden fiel. Mit der einen Hand hielt sie die Schaufel, mit der anderen eine Taschenlampe, die zunächst den Boden und heraushängende Wurzeln beleuchtete. Als sie sich aufrichtete konnte sie gerade über den Erboden schauen. Sie bückte sich wieder und richtete ihre Taschenlampe auf den Bogen. Seltsam, das Licht ihrer Taschenlampe prallte an einer Nebelwand auf der anderen Seite des Bogens derart ab, dass sie nichts weiter erkennen konnte. Wie war das möglich? Nebel unter der Erde? Was war dahinter, etwa ein Abgrund, oder ein Teich? Sie fröstelte. Doch ihre Neugierde triumphierte über ihrer Angst. Langsam schob sie ihren rechten Fuß nach vorne und taste sich so durch den Bogen. Ihr Fuß blieb auf festen, trockenem Grund, so dass sie sich mit dem ganzen Körper durch die Nebelwand schieben konnte.
Dann verschlug es ihr den Atem.
Vor ihr erhob sich ein stattliches Haus. Stufen bahnten sich zu dem großen Eingangstor, das mit massiven Säulen umrahmt war, die an einen griechischen Tempel erinnerten. Es war dämmrig. Doch über ihr war der endlose Himmel und nicht, wie erwartet, ein Erddach. Zwei große Feuerschalen warfen ihr warmes Licht auf die Hausfassade, so dass Mia im schummrigen Licht kleine Drachen entdeckte, die sich wie Fledermäuse unter dem Dachbalken krallten. Ihr großer Schatten ließ sie mächtig und unheimlich erscheinen. Wie der Rest des Gebäudes waren auch sie aus kaltem, weißen Stein, doch ihre Augen hingen an der ankommenden Besucherin, als wollten sie sagen: Was willst du hier? Das ist kein Ort für kleine Mädchen. Geh weg! Verschwinde! Dazu ließ das flackernde Licht ihre Schatten zittern und lebendig werden.
Mias Knie wurden weich. Sie hielt sich an einem Ast fest, den ihr ein knorriger Baum entgegenstreckte.


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