KERSTIN LANGHOFF- Aktuelles von der Schreibwerkbank...
Montag, 21. Dezember 2009
Der letzte Strich- eine Weihnachtsgeschichte
Der Abendwind blies unter den vor ihm ausgebreiteten Papyrus, so dass Simeon ihn an den Enden immer wieder beschweren musste. Bis auf das flackernde Licht der Öllampe auf seinem Schreibtisch war alles dunkel. Eine innere Unruhe hielt ihn vom Schlafen ab.
Warten - ja, geduldiges Warten war eine Tugend, vielleicht die schmerzhafteste. Nicht, dass sie körperlich wehtun würde, aber im Warten begegnet der Mensch dem gesamten Ausmaß seiner Ohnmacht, dem Angewiesensein auf etwas, was sich seinem Einflussbereich entzog. Wie viele Jahre hatte er nun täglich im Tempel gesessen. Jeden Morgen erneut mit der Hoffnung, dass dies der Tag sei, an dem er ihm begegne. Am Abend hatte Simeon der heiligen Stätte wieder den Rücken gekehrt, häufig traurig und innerlich zerrissen. Er machte Jahwe keine Vorwürfe, wer war er, dass er das könnte? Dafür hatte er Ihn schon zu sehr erlebt. In seinem spärlich möblierten Raum setzte er sich oft an den Tisch und überdachte sein Leben.
Auch an diesem Abend füllten Erinnerungen den Papyrus. Simeon richtete seinen Rücken auf und las erneut:
Ein langes Leben habe ich gelebt.
Gute und schwere Jahre.
Knapp achtzig Sommer und Winter habe ich kommen und gehen sehen.
Sie sind in meine Seele eingegangen, haben ihre Abdrücke hinterlassen.
Die Spuren meines Lebens sind überall verteilt.
Könnten sie des Nachts leuchten, so würden sie ein Gemälde ergeben.
Gerne würde ich es vom Mond aus betrachten.
Was würde ich sehen?
Vielleicht mich selbst, so wie ich jetzt bin.
Ganz gewiss aber mit der Signatur meines Schöpfers.
Ich denke an meine Frau, Jael.
Sie hatte ein heiteres Gemüt und besaß ein reines Herz.
Viele Jahre haben wir miteinander verbracht.
Wir haben viel gelacht und unsere Tränen gegenseitig aufgefangen.
Drei Söhne und vier Töchter sahen wir gemeinsam aufwachsen.
Sie haben unser Leben beschenkt.
Doch als unsere Tochter Salome der Krankheit erlag, zerbrach Jaels Herz vor Kummer. Meines erstarrte, wie ein großer Stein, der sich auf meine Brust legte.
Jahwes Güte hat uns wieder hergestellt.
Er hat die klaffende Wunde geschlossen, die ihr Tod in uns verursachte.
Wo ist der Trost stärker als bei dem Gott Israels?
Seither habe ich keine Angst vor dem Tod, wohl aber vor der Enttäuschung, der letzte große Strich könnte ausbleiben, der meine Lebenszeichnung fertig stellt.
Jael starb in Frieden und hinterließ mir Einsamkeit.
Meine Kinder haben Jerusalem verlassen.
Zu viele suchen hier nach Arbeit.
Das römische Militär unterdrückt uns.
Hunger sitzt in den Gassen und breitet sich in den Häusern aus.
Menschen sehnen sich nach Erlösung, hoffen durch eigene Anstrengung dem Joch des Gesetzes zu genügen.
Wo ist der, der ihre niedergedrückten Seelen aufrichtet, der ihnen Jahwes Gnade zeigt?
Denn ihre Ohren sind verstopft von der Mühsal des Alltags.
Ich bin geblieben, in meinem Jerusalem.
Da hier meine Verheißung liegt.
Hier soll ich das Heil, den Messias, schauen.
So ließ ich meine Kinder und Kindeskinder ziehen.
Mein Herz schlägt höher, wenn sie mich besuchen, doch es zerreißt sich vor Sehnsucht nach der Ankunft des Kindes, das die Rettung Israels bedeutet.

Simeon erhob sich aus seinem Stuhl und setzte sich auf seinen Schlafplatz. Neben ihm eine Ziege, die schon oft versucht hatte, seine Worte zu fressen. Wenn er schrieb, band er sie fest. Nun meckerte sie. Was machte ihr Gestank gegen den Becher frischer Ziegenmilch, mit dem sie ihn jeden Morgen beschenkte?
Jetzt war er wieder da, der Stich, unangekündigt durchzog er seine linke Brusthälfte. Der alte Mann presste seine Hand auf die Stelle über seinem Herzen und hechelte, bis der Schmerz schwächer wurde. Er wusste, dass sich seine letzten Stunden nahten.
Simeon hatte die Schrift studiert, wieder und wieder, hatte den Lesungen im Tempel gelauscht, bis er sie auswendig rezitierte. Jahrhunderte hatte Gott nicht mehr durch Propheten zu seinem Volk gesprochen. Doch die, die an ihn glaubten, hörten seinen Geist auch jetzt, leise, sanft, wie ein zaghafter Freund, der an die Tür klopft. Jahwe zeigte sich Simeon durch Träume. In ihnen begegnete er einem Licht, so stark, dass es die Dunkelheit durchfuhr und vertrieb, einer Kraft, die längst geduldete Fesseln zersprengte. Nicht in Gestalt der Streitmacht, die die Gassen verunsicherte, sondern in Gestalt eines Knechtes, nicht schön vom Aussehen, so wie die Welt Schönheit erachtete, aber rein und vollkommen wie Jahwe selbst.
Erschöpft kippte Simeons Oberkörper auf die Matte. Das restliche Lampenöl verbrauchte sich in einer schwachen Flamme. Wenige Stunden später schritt der Morgen durch die spröden Ritzen seiner Eingangstür.
Mit schmerzenden Gliedern stemmte sich Simeon von seinem Nachtlager hoch. Er wusch sich, trank die Ziegenmilch und hüllte sich in einen Mantel. Sein Stock stütze ihn auf seinem Weg zum Tempel.
Lautes Treiben begrüßte ihn auf den Gassen Jerusalems. Händler zogen ihre Karren zum Marktplatz, um die magere Ernte, die ihnen die Römer übrig ließen, teuer zu verkaufen. Aus Langeweile rempelten Soldaten hier und da Bewohner an und hofften auf irgendwelche Reaktionen. In den staubigen Straßen spielten Kinder mit Steinen. Sie versuchten das kleine Steinchen in der Mitte zu treffen und zu gewinnen. Frauen gluckten mit ihren Wasserkrügen auf den Köpfen beisammen. Sie plauderten, die eine laut, die andere schrill, während die Tagelöhner unter einer Palme im Stadtkern auf einen Job hofften, von dem sie notdürftig ihre Familie ernähren könnten. Drei Pharisäer schritten hoch erhobenen Hauptes an Simeon vorbei. Menschen des Gesetzes, die ausstrahlten, sie könnten ihren Gott mit der Einhaltung der Mischnah beeindrucken, wie Glühwürmchen, die der Sonne ihre Lichtkraft vorführten.
Simeon erreichte den Tempel und sank kraftlos in der hintersten Reihe am Boden nieder.
Worte aus Jesaja drangen an sein Ohr:
Aber wer glaubt dem, was uns verkündigt wurde, und wem ist der Arm des Herrn offenbart?
(Jesaja 53)
Simeon nickte: Ja, ich glaube Dir, Jahwe, selbst wenn ich dem Retter erst auf meinem Sterbebett begegne. Moses Geschichte kam ihn in den Sinn. Wie sehr musste er gebrannt haben, sein Volk aus der Knechtschaft der Ägypter zu befreien. Wie sehr hatte es Moses bereut, Gottes Arm mit seinem Arm, durch einen Totschlag an einem Ägypter, zuvor gekommen zu sein, um dann weitere vierzig Jahre auf Jahwes Reden zu warten. Ja, der Gott Israels hatte gezeigt, dass seine Zeitrechnung nicht unsere ist. Am Ende wurden alle seine Verheißungen wahr. Jahwe hatte sein Volk auf gnädige und unnacharmige Weise gerettet.
Die Lesung war zu Ende. Die Männer verließen flüsternd die Tempelhalle und Stille breitete sich im Inneren der Synagoge aus. Simeon musterte seine Hände. Tiefe Furchen erzählten von einem mühevollen Leben. Sie waren leer. Er hatte nichts zu geben. Dann hielt Simeon die Handflächen nach oben und war bereit, bereit zu empfangen.
Ein Sonnenstrahl wärmte seinen Rücken, als sich das Tor hinter ihm einen Spalt öffnete. Ein junges Paar schaute sich zaghaft um. In dem Arm der Frau ein Leinenbündel.
Simeon stand auf. Das Paar erblickte den alten Mann und kam auf ihn zu, als seien sie verabredet. Dann hielt die Frau Simeon das Bündel entgegen, und er nahm den Jungen zu seiner Brust. Der Säugling schaute ihn an. Tränen rannen über Simeons faltige Wangen und seine Hände zitterten. Er war angekommen, der von dem die Schriften erzählten, der wonach die Schöpfung ächzte und stöhnte, der von dem das Heil sich über den gesamten Erdball ergießen sollte. Er, der Höhepunkt in Simeons Leben, der letzte Strich seines Gemäldes. Das Warten hatte ein Ende.
Als er die kleine Familie segnete, spürte er, wie Segen auf mannigfaltige Weise auf ihn zurückkam. Dann legte er seine Hände auf die Eltern, und erahnte die Last, die Maria noch zu tragen hatte, den Schmerz, der ihr wegen ihres Sohnes widerfahren würde. Doch der Friede Gottes wies Simeon auf die Hoffnung hin, die aus dem Leid kommen würde.
Ein letztes Mal sah er der Familie fest in die Augen und verließ den Tempel. Seine Beine waren bleiern, aber sein Herz sprang wie das eines jungen Rehs.
Er hatte den Erlöser gesehen.
Am nächsten Morgen klopfte sein Enkel Nathanael an Simeons Hütte.
Als eine Antwort ausblieb, trat er in den Raum. Die Ziege trampelte unruhig auf ihrem Fleck. Sein Großvater lag mit dem Oberkörper auf der Papyrusrolle. Sein Atem war erloschen, wie das Licht der Ölleuchte.
Nathanael hob Simeon über seine kräftige Schulter und legte ihn sanft in die Schlafnische. Lange sah er seinen Großvater an, dessen Gesicht einen außergewöhnlichen Frieden trug. Nathanael durchzuckte ein angenehmer Schauer. Dann trat er an Simeons Schreibtisch, rollte das Papyrus auseinander und las die letzten Zeilen:
Nun lässt du, Herr, deinen Knecht
wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.
Denn meine Augen haben das Heil gesehen,
das du vor allen Völkern bereitet hast,
ein Licht, das die Heiden erleuchtet
und Herrlichkeit für dein Volk Israel.
(Lukas 2,29-32)
Tränen rannen über Nathanaels Gesicht. Tränen des Verlustes, Tränen der Freude und Tränen überwältigender Dankbarkeit.

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Montag, 16. Oktober 2006
"GELIEFERT"
Mir blieb nur noch der Vormittag des 24. Dezember, um für das besondere Abendessen einzukaufen. Als ich früh morgens erwachte, war unser einjähriger Sohn schon hellwach und turnte auf mir herum. Verschlafen trottete ich in die Küche. Ich machte mir einen Kaffee, um munter zu werden. Kurz darauf patschte meine Dreijährige barfuß über die Küchenfließen zum Kühlschrank. "Ich will einen Joghurt, Mama. "Konnte ich am Morgen nicht eine ruhige Minute haben, um mich halbwegs auf den
Tag einzustellen? "Ich muss noch schnell zur Toilette, dann bekommst du deinen Joghurt." Ich schloss die WC-Tür.
"Mama, ich will aber Joghurt, jetzt, bitttteeee."
Dann ein lautes Klirren.
"Was ist denn jetzt passiert!"Im Rennen zog ich meine Hose hoch.
"Mamaaaaa!", meine Tochter Leonie schrie, ihr kleiner Bruder Lenard schloss sich an.
"Wegbleiben, Kinder! Leonie, du bleibst hier stehen
und rührst dich nicht vom Fleck. Hier sind lauter Scherben!"
An Leonie klebte der überteuerte Vitamin-Saft aus dem Kühlschrank. Sie stand wie eine Skulptur auf ihrem Fleck und schluchzte, während ich mühsam die
klebrige Flüssigkeit vom Boden wischte, einzelne Scherben auflas und den Staubsauger herbeizerrte.
Dann versuchte ich meiner Dreijährigen den weiteren Tagesplan so schmackhaft wie möglich zu machen: "Leonie, wir ziehen uns jetzt an, dann isst du Deinen Joghurt, und dann kaufen wir ein, okay?"
"Nee, ich will spielen!"
Mittlerweile hatte sich Lenard davongeschlichen. Eine
Vermutung trieb mich ins Bad.
"Lenard, nein, nicht die ganze Rolle!"
Er hatte das Toilettenpapier abgewickelt und eine große Menge davon in die Kloschüssel gestopft. Ich drückte auf die Spülung. Das Wasser stieg.
Kurz vor dem Überlaufen flutschte es ebbeartig zurück ins Kanalisationsrohr.
"Ein Glück", seufzte ich.
Kurz darauf fiel mein Blick auf die Wohnungstür. "Leonie, hast du meinen
Schlüssel gesehen?"
"Mama, Lenard hat den Schlüssel", schoss es aus ihr
heraus.
"Lenard?" Ich schaute sie entsetzt an.
Konnte es sein, dass er ihn in die Toilette geschmissen hatte?.................


Meine vollständige Kurzgeschichte in

"HOLY HORROR CHRISTMAS-
66 schrecklich wahre Weihnachtsgeschichten"

Hrsg. Marco Carini
Piper Verlag. 2008


ODER in der Audio CD
"Holy Horror Christmas-
22 schrecklich wahre Weihnachtsgeschichten" 2007


Was an Weihnachten alles schief gehen kann...
Wir haben es selbst erlebt, und verdrängen es jedes Jahr erneut. Aber wir sind nicht allein:
Hier sind 66 Geschichten mit Humor festgehalten.
Viel Spaß beim Lesen!

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Donnerstag, 14. September 2006
Der Schatz der Sonne
Es war ein wundersamer Wintermorgen, den die Sonne ganz in ihren Besitz zu nehmen schien. Das Licht flutete in die entlegensten Ecken des Palastes, selbst dahin, wo sich die Fledermäuse bisher sicher gefühlt hatten. An diesem Morgen gebar die Königin ihr einziges Kind, Aurora.
Als die Sonne die kleine Prinzessin mit ihren Strahlen berührte, legte sie etwas in sie hinein: das Geheimnis der Freude.
„Sonderbar!“, wunderte sich die Hebamme, die bisher nur schreiende Säuglinge erlebt hatte. Denn Aurora lächelte.

Als sie älter wurde, freute sie sich scheinbar über jede Kleinigkeit: die Schneeglöckchen, die im Frühjahr ihre Köpfe aus dem Eis reckten, die Marienkäfer, die um ihre Nasenspitze tanzten und ihren Diener James, der so schlecht hörte, dass er es nicht einmal merkte, wenn Aurora ihm die Schnürsenkel zusammenknotete und hinter seinem Rücken kicherte.
So steckte die kleine Prinzessin mit ihrer Freude den gesamten Palast an.

An ihrem neunten Geburtstag wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Schlittschuhlaufen zu lernen. Im Arm ihres Dieners eingehakt, stakste sie in ihren neuen Schlittschuhen über den zugefrorenen See. Doch schon nach wenigen Metern verlor Aurora das Gleichgewicht und riss den armen, alten James mit sich auf die Eisfläche. Sie musste so laut lachen, dass sich alle nach ihr umdrehten und mitkicherten. Nur James rieb sich mürrisch den Rücken.
„Darf ich Euch aufhelfen?“, fragte ein Junge aus dem Dorf und streckte ihr freundlich die Hand entgegen.
„Ja, bitte“, antwortete die Prinzessin, „aber nenn mich doch einfach Aurora.“
„Ich heiße Ferdinand", lächelte der Junge, "und bin ein guter Eisläufer. Soll ich Euch das Schlittschuhlaufen beibringen?"
Aurora strahlte über beide Wangen. Von da an waren sie jeden Nachmittag auf dem Eis anzutreffen.
Am Anfang war das Königspaar skeptisch gegenüber der Freundschaft ihrer Tochter zu einem Dorfjungen, doch als sie Ferdinand mit seiner freundlichen und höflichen Art begegneten, schlossen sie ihn schnell ins Herz.
Der Winter ging vorüber. Die Eisfläche auf dem See wurde brüchig und verschwand. Aber Aurora und Ferdinand sahen sich weiterhin fast jeden Tag.

Als die Tage wärmer wurden und der Sommer kam, spielten beide Kinder im Schlossgarten. Gekitzelt von den Strahlen der Sonne, hörte man ihr Lachen bis hinunter ins Dorf, wo es den Leuten ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte.

Wie schnell verging die Zeit mit einem Freund zum Spielen!
Bald malte der Herbst die Blätter bunt und von weitem hörte man das dumpfe Hufgeklapper der Pferde, die voll beladene Erntekutschen ins Dorf zogen. Aurora und Ferdinand saßen unter der Krone eines mächtigen Ahornbaumes, dessen Früchte sich wie kleine Propeller im Wind drehten. Aurora spaltete eine von ihnen und klebte sie auf ihre Nase. Ferdinand grinste. Dann flüsterte die Prinzessin: „Wir wollen immer Freunde sein, und die Ahornfrucht soll uns daran erinnern.“
Ferdinand wurde es warm ums Herz, und er nickte. „Aurora, möchtest du meine Eltern und mich besuchen? Sie würden dich gerne kennen lernen.“
„Ja!“, antwortete sie begeistert.

Schon ein paar Tage später fuhr sie in der königlichen Kutsche zum Dorf. James saß neben dem Kutscher und schlief. Sie kamen durch ein Waldstück. Am Wegesrand bot eine Frau Schmuck, Teppiche, Geschirr und allerlei Spielzeug feil. Die Händlerin war in einen prächtigen, blauen Samtmantel gehüllt, dessen Kapuzenrand bis zu ihrer Stirn ragte. Plötzlich erblickte Aurora inmitten der Waren ein geschnitztes, rosa Holzpferdchen.
„Halt, so haltet doch an!“, schrie die Prinzessin aus Leibeskräften. Der Kutscher erschrak und brachte die Pferde sofort zum Stehen, so dass der alte James unsanft aus dem Schlaf gerüttelt wurde.
„Was ist denn los?“, keuchte der Kutscher, als er die Tür öffnete. Aurora sprang an ihm vorbei und auf das rosa Pferdchen zu. Mühsam stieg der alte Diener vom Kutschbock und trottete kopfschüttelnd hinter ihr her.
Die Prinzessin betrachtete das Pferd lange: Die Mähne war silbern bemalt und glitzerte, als sei sie aus tausend klitzekleinen Sternen zusammengesetzt.
„Möchtet Ihr das Pferdchen haben?“, fragte eine dumpfe Stimme.
Aurora schaute auf. Die Händlerin durchdrang sie mit ihrem scharfen Blick.
„Ja, d-die-se-es Pferd, wa-as soll denn das ko-o-sten?“, stotterte Aurora.
„Dieses Pferd ist unverkäuflich!“
„Unverkäuflich?“
Die Prinzessin zuckte zusammen.
„Nun“, fuhr die Verkäuferin unbeirrt fort, „es ist nicht mit Gold oder Silber zu erwerben, aber mit einem warmen Sonnenstrahl, der das kalte Gestein des Mondes erwärmt. Tauscht Eure Freude gegen das Pferdchen, und solange Ihr es besitzt, wird Eure Freude mein sein.“
Auf den ersten Blick schien das Gesicht der Händlerin wunderschön, doch dann fiel Aurora auf, dass die Frau keine Miene verzog. So war es kühl und fahl wie der Mond.
Aurora schaute wieder zu dem Pferdchen. Würde sie wirklich ihre Freude dafür hergeben müssen? Doch sie wollte das Pferdchen besitzen, koste es was es wolle. Kurzerhand schob sie ihre Bedenken beiseite und sagte zaghaft: „Abgemacht!“
Aus der Verkäuferin brach ein lautes Lachen hervor, das selbst James aufschreckte.
„Lasst uns gehen, Eure Hoheit“, drängte er und zerrte sie mit dem Pferd in ihrer Hand zur Kutsche.

Dort, wo das Dorf begann, stand ein Junge im Sonntagsanzug und trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte sich mit seinen Eltern mühevoll auf den Besuch der Prinzessin vorbereitet. Den gesamten Lohn, den der Vater in einem Monat als Tischler verdiente, hatten sie für diesen Tag entbehrt. Endlich konnte Ferdinand die Königspferde sehen und rannte auf die Kutsche zu.
„Hoooo“, rief der Kutscher und hielt an.
Er öffnete Ferdinand die Tür, damit er das letzte Stück noch mitfahren konnte. „Grüß Gott, Aurora!“, sagte Ferdinand freundlich. Aber das Mädchen schien ihn gar nicht zu beachten, sondern hielt ihm das Holzpferd entgegen.
„Guck mal, was ich auf der Fahrt zu dir bekommen habe.“
Er wunderte sich. Freute sie sich denn gar nicht, ihn zu sehen? Er suchte in ihren Augen nach einer Antwort, aber die waren nur auf das Pferd gerichtet.
Während des Nachmittags zweifelte Ferdinand immer mehr:
Gefiel Aurora sein Zuhause nicht?
Warum sagte sie nichts zu dem liebevoll bereiteten Essen?
Warum lachte sie überhaupt nicht, und warum interessierte sie sich nur für das Holzpferd und gar nicht für ihn und seine Eltern?

Als der Diener mit der Prinzessin am Abend aufbrach, blickte Ferdinand sie traurig an. Er wollte ihr seine Ahornfrucht zeigen und sagte:
„Hast du auch noch deine?“
Doch die Prinzessin winkte ab und drehte sich weg.
„So was gibt es doch überall!", entgegnete sie kalt.
Es hatte sich eine unsichtbare Mauer zwischen die Kinder geschoben. Ferdinand spürte sie, aber die Prinzessin schien sie nicht wahrzunehmen.............................

Alle Rechte sind der Autorin Kerstin Langhoff und dem Märchenbasar vorbehalten.

Das gesamte Märchen erschien nebst 21 anderen wunderschönen Märchen im

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Sonntag, 3. September 2006
Oma wohnt jetzt im Himmel
Eine Geschichte über den Tod
(gerade für Kinder ab 4 Jahren und älter geeignet)


Das Telefon klingelte seltsam. Es konnte weder eine Freundin noch Papa aus dem Büro sein. Dann klang es nämlich fröhlich oder lustig. Aber an jenem Vormittag im Oktober war es schrill, durchdringend, wie ein Wecker am Morgen vor einer Mathearbeit. Mama spürte es auch, streifte ihre Schaumhände vom Spülen an der Schürze ab und hob zögernd den Hörer von der Gabel.
„Ja, Martinson, hallo...?“
Sie folgte regungslos den Worten, die durch die Leitung flitzten. Ich stellte mich neben sie und lauschte. Eine aufgeregte Stimme quietschte durch den Hörer wie ein Luftballon, den man am Endstück auseinander zog, während ihm die Luft ausging.
Mama legte auf. Sie stand da wie eine traurige Statur, sackte auf das Sofa und hauchte:
„Lisa, Oma ist tot.“
Der Satz traf mich wie ein Schlag. Ich fühlte mich benommen. Wie konnte das sein? Auf einmal nicht mehr da?
Ich spürte Mamas tränenfeuchte Wange, als sie mich umarmte.
Ich wollte das nicht, wollte nur für mich sein und schloss mich im Bad ein. Aber ich konnte nicht weinen. Ich starrte an die gelb geflieste Wand und dachte an- gar nichts. Dann wartete ich, aber keiner kam. Auch nicht Mama.
Von da ab war sie nämlich kaum noch zu sprechen. Ständig hatte sie etwas zu erledigen, oder hing am Telefon und schluchzte.
Am Tag vor Omas Beerdigung fuhr ich zu ihrem Zuhause. Mama wollte, dass ich dort die Blumen goss. Oma hatte eine kleine Wohnung, die aus lediglich zwei Zimmern bestand, dem Bad und dem Wohnraum mit Küchenzeile und Schlafnische. Dafür hatte sie aber einen großen Balkon zum Wald hin. Oftmals lehnte sie sich über die Geranienkübel, die am Geländer befestigt waren, und versank mit Blick auf den Wald in ihrer Welt der Erinnerungen. Sie erzählte viel von Opa, der vor Jahren an Krebs gestorben war. Nicht selten liefen ihr dabei Tränen über die faltigen Wangen. Dann zog sie ihr schneeweißes Stofftaschentuch mit dem Häkelrand aus der Schürze und tupfte damit ihre Tränen weg.
Oma und Opa hatten sich wohl sehr geliebt.

Im Frühjahr hatte ich mit ihr ein Elsterpärchen beobachtet, das im Wipfel eines Buchenbaumes ein Nest für seine Jungen baute. Nun waren die Kleinen flügge geworden und der Herbst hatte die Blätter bunt gemalt.

Als ich an jenem Nachmittag den Schlüssel in die Wohnungstür steckte, war mir mulmig zumute. Oma wohnte in einem Wohnstift auf einem Gang mit zehn Türen. Ein vertrauter Geruch, der an Gemüsesuppe erinnerte, schlängelte sich durch den Flur. Dann trat ich in die Kleine Wohnung. Wenn Oma noch leben würde, wäre sie spätestens jetzt aus ihrem Ohrensessel aufgestanden, um mich zu begrüßen. Doch der Sessel blieb regungslos. Alles war an seinem Platz: die Porzellangans mit den Kochlöffeln, der runde Eau de Toilette- Flakon auf dem Glasregal im Bad, das Vogelhäuschen auf dem Balkon und vieles mehr, ohne das Oma gar nicht zu denken war. Aber alles war genauso wenig ohne Oma auszuhalten.
Zum ersten Mal rollten mir Tränen über die Wangen, zum ersten Mal löste sich der Knoten, der meine Kehle seit Tagen zudrückte. Ich sank in den Ohrensessel und weinte.
Als ich Oma vor Jahren einmal fragte:
„Warum heißt der Ohrensessel eigentlich Ohrensessel?“, antwortete sie verschmitzt, während ihre Augen über die Lesebrille blitzen:
„Erst einmal, weil seine Seitenlehnen wie Ohren aussehen und zweitens, weil der Ohrensessel alles hört, was man sagt, und daher viele Geheimnisse in sich trägt."
In dem Moment, als ich mich an das Gespräch erinnerte, schien der Sessel nach hinten zu kippen und transportierte mich geradewegs zurück in eine andere Unterhaltung, die ich vor kurzem mit Oma geführt haben musste. ...

Alle Rechte an diesem Text sind Kerstin Langhoff vorbehalten

Die vollständige Geschichte ist, neben 24 weiteren lesenswerten Geschichten, seit April 2007 in dem Buch
"Gott trocknet alle Tränen" (Trost für Hinterbliebene), Hrsg. Eckart Haase, zu finden.


ISBN 9783930730537

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